Analyse: Gabriels schmaler Grat
Berlin (dpa) - Sigmar Gabriel ist derzeit ziemlich wortkarg. Es ist in diesen Tagen bei der SPD ein wenig wie beim Mikadospielen. Zu früh bewegen, ein falsches Stäbchen ziehen - und alles ist vorbei.
In der Fraktion hat er gemahnt, vor dem Parteikonvent am Freitag nicht weiter in jedes Mikrofon zu sprechen.
Ein Beispiel: Der Sprecher des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, empfiehlt derzeit den Grünen, in eine Koalition mit CDU/CSU zu gehen. Klappt das nicht, will er gleich viele Ministerien für die SPD in einer großen Koalition - inklusive des Finanzressorts. Trotz 16 Prozent Stimmenunterschied zur Union.
Gabriel spricht von einer „ergebnisoffenen Suche“ nach einer möglichen Regierungsbildung. Dieser Politik-Sprech war bisher vor allem bekannt aus der hitzigen Debatte um eine neue Suche nach einem Atommüll-Endlager. Eigentlich passt dies sehr gut. Auch hier galt es, dem Eindruck von einer Vorfestlegung auf Gorleben entgegenzutreten. In der Situation ist Gabriel: Er muss der SPD vermitteln, dass es in der Führung keinerlei Favorisierung einer großen Koalition gibt.
Am Freitagabend kann es zu einer Art Vorentscheidung kommen. Dann treffen sich hinter verschlossenen Türen 200 Delegierte aus ganz Deutschland im Willy-Brandt-Haus. Es geht um die Frage, ob kommende Woche mit der Union erste Gespräche geführt werden sollen.
Wegen der hochfragilen Situation ist es aber auch möglich, dass man nur berät - und es vorerst keine Sondierungsgespräche mit der Union geben wird. Vor der Aufnahme von Koalitionsgesprächen müsste erneut der Konvent befragt werden. Zudem wächst der Druck für eine Befragung aller 470 000 Mitglieder über einen möglichen Koalitionsvertrag mit CDU/CSU.
Wenn der 35-köpfige Vorstand dazu mit Dreiviertelmehrheit den Weg frei machen würde, könnte dies stark beschleunigt werden. Im Optimalfall geht alles wie 2005 bis zum Parteitag am 14. November in Leipzig über die Bühne, um sich hier auf eine Regierungsbeteiligung oder eine erneute Opposition einzustellen - inklusive wichtiger Personalentscheidungen.
Das ist aber unwahrscheinlich. Je nachdem, wie es läuft, könnte auch Gabriels Vorsitz in Gefahr geraten. Das Thema ist nach dem Absturz auf 23 Prozent am Ende der ersten vier Jahre mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ein hochsensibles in der SPD. Gabriel war damals Umweltminister, mit Merkel warb er vor grönländischen Eisbergen für mehr Klimaschutz. Gabriel schätzt die Kanzlerin und verstand sich besonders mit dem damaligen Agrarminister Horst Seehofer bestens.
Aber bevor an einen Vizekanzler Gabriel zu denken ist, muss dieser erst einmal den Laden zusammenhalten. Ausgerechnet im 150. Jahr des Bestehens der deutschen Sozialdemokratie steht die Partei vor einer Zerreißprobe. In solchen Drucksituationen läuft Gabriel immer wieder zur Höchstform auf - nun macht ihm jedoch eine Frau das Leben vor dem Parteikonvent enorm schwer: Seine Stellvertreterin Hannelore Kraft.
Ihr Landesverband in Nordrhein-Westfalen hatte sich am Montag als erster aus der Deckung gewagt und mit deutlicher Skepsis gegenüber einer große Koalition den Ton vorgegeben - es folgten immer mehr Landesverbände, die sich anschlossen und einen Mitgliederentscheid forderten. Aber die NRW-SPD betont auch: „Wir verweigern uns keinen Gesprächen“. Die SPD-Länder fürchten finanzielle Nachteile bei einer großen Koalition im Bund - und ein schlechtes Abschneiden der SPD bei den Kommunalwahlen in zehn Ländern an 25. Mai. „Sie hat alle auf die Bäume gebracht“, sagen mehrere Sozialdemokraten unisono über Kraft.
Das Dilemma: Da Schwarz-Grün bisher unwahrscheinlich ist, könnten bei einem Verweigern der SPD Neuwahlen drohen: Die Union könnte die absolute Mehrheit erreichen - oder mit einer wieder in den Bundestag einziehenden FDP eine Koalition bilden. Während der SPD droht, für die Blockade gegen die von den Bürgern gewünschte große Koalition abgestraft zu werden. Gabriel könnte dies aus dem Amt fegen. Dann müsste wohl Kraft, ob sie will oder nicht, übernehmen. In der SPD werden Zweifel geäußert, ob sie strategisch ihr Agieren überblickt.
Zugleich könnte ein Basisvotum CDU und CSU zu mehr Zugeständnissen an die SPD bewegen: Ein Aus für das Betreuungsgeld wird in der SPD als unwahrscheinlich gesehen - es ist das Lieblingsprojekt von CSU-Chef Seehofer. Aber bei Mietbremse und gesetzlichem Mindestlohn sieht man gute Einigungschancen. Auch den Unions-Testballon, einen höheren Spitzensteuersatz zur Finanzierung von Bildungsinvestitionen nicht mehr auszuschließen, nimmt die Partei interessiert zur Kenntnis.
Aber ein Mitgliederentscheid ist auch riskant: Geht er negativ aus, muss dann die Parteiführung abtreten? In einem Brief an alle Mitglieder verspricht Gabriel nun: „Alle Entscheidungsprozesse, Zwischenschritte und erst Recht alle Entscheidungen der SPD werden mit größtmöglicher Transparenz und unter breiter Beteiligung der Partei und Ihrer Mitglieder vorgenommen.“ Seit er mit Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück im kleinen Troikakreis die Kanzlerkandidatur ausheckte, weiß er, dass es diesmal komplett anders laufen muss. Es können turbulente Wochen bei der SPD werden.