Analyse: Gaddafi hat Stammesführer umsonst umgarnt
Tripolis/Kairo (dpa) - Er wollte der „König der Könige von Afrika“ sein. Er hofierte die Stammesführer und spielte sie gelegentlich auch gegeneinander aus. Doch die Strategie von Libyens Oberst Muammar al-Gaddafi ging genauso wenig auf wie damals bei Iraks Diktator Saddam Hussein.
Beide Staatschefs haben im Laufe ihrer Herrschaft versucht, ihren pseudosozialistischen arabischen Nationalismus mit den traditionellen Stammesstrukturen zu verknüpfen. Ohne Erfolg.
Im Irak standen nach dem Einmarsch der US-Armee 2003 nur noch wenige sunnitische Clans aus seiner Heimatprovinz Salaheddin zu Saddam. Und auch Gaddafi, der dem zahlenmäßig eher unbedeutenden Al-Gaddafa-Stamm angehört, kann sich jetzt in der Krise nur noch auf wenige Clans aus dem Westen Libyens verlassen. Ein Volksstamm nach dem anderen wendet sich in diesen Tagen des Aufstandes von ihm ab.
Etwa 150 Stämme soll es insgesamt in Libyen geben. Experten mit Einblick in die libyschen Machtstrukturen berichten, die 22 Stämme der östlichen Region Cyrenaica hätten sich inzwischen mehr oder weniger komplett den Aufständischen angeschlossen.
Über den ehemaligen Innenminister Abdulfattah Junis al-Obaidi, der zu dem im Osten ansässigen Al-Obeidat-Clan gehört, heißt es jetzt, er sei der neue starke Mann in der Ost-Region. Als einer der wichtigsten Führer des Aufstandes versuche er von der Stadt Bengasi aus, für Ordnung zu sorgen. Dabei werde er von zahlreichen Stammesführern des Ostens unterstützt, hieß es.
Doch der erste Stamm, der sich nach Beginn des zunächst von einigen Jugendlichen und Islamisten im Osten begonnenen Aufstandes von Gaddafi abwandte, hat sein Zentrum im Westen. Dass sich der Warfalla-Stamm, dem etwa eine Million Menschen angehören, gegen den Staatschef stellte, entfaltete eine Sogwirkung, die der exzentrische „Bruder Führer“ nicht mehr stoppen konnte.
Hinter diesem Kurswechsel der Stammesführer steckt nach Einschätzung von Beobachtern sowohl die Überzeugung, dass Gaddafi und sein merkwürdiger Führungsstil einfach untragbar geworden sind, als auch die Angst, in der Ära nach Gaddafi plötzlich auf der falschen Seite zu stehen.
„Was im Moment in Libyen geschieht, ist eine Schande. Es widerspricht allen Gesetzen und internationalen Vereinbarungen sowie den Geboten der Offenbarungsreligionen (Christentum, Islam, Judentum). Es ist ein Völkermord am libyschen Volk“, hieß es in einer Erklärung, die von der Oppositions-Website „Libya al-Youm“ am Dienstagabend im Namen des Stammes der Awlad Abu Jussiv veröffentlicht wurde.
Beobachter in Libyen erwarten, dass die Stammesführer in der Zeit nach Gaddafi zumindest übergangsweise eine starke Rolle spielen werden, und sei es auch nur, weil es sonst kaum Strukturen in Libyen gibt, auf die man aufbauen könnte. Das Gleiche gilt auch für den Jemen, wo Demonstranten seit Tagen versuchen, Präsident Ali Abdullah Salih zum Rücktritt zu drängen. In Tunesien und Ägypten, wo in den vergangenen Wochen die ersten zwei arabischen Herrscher stürzten, spielt die Stammeszugehörigkeit dagegen schon seit Jahrzehnten keine wichtige Rolle mehr, sieht man einmal vom ländlichen Süden Ägyptens ab.
Da es in Libyen schon seit Jahrzehnten keine Meinungsfreiheit gibt und auch die Exil-Opposition nicht sehr bedeutend ist, ist ein Neuanfang hier wahrscheinlich deutlich schwieriger als im benachbarten Ägypten. Ein enger Vertrauter Gaddafis hatte Anfang dieser Woche noch einen letzten Versuch gemacht, die westlichen Staaten um Hilfe zu bitten. Er behauptete, im Falle einer Entmachtung von Gaddafi werde in Libyen ein islamistischer Gottesstaat entstehen. Doch mit dieser Taktik waren vor ihm schon der Tunesier Zine el Abidine und der Ägypter Husni Mubarak gescheitert.