Analyse: Gaddafis Geheimnisse kommen ans Licht
Bengasi (dpa) - Libyen war über Jahrzehnte ein Land der dunklen Geheimnisse. Wem Unrecht widerfuhr, der schwieg - aus Angst vor Folter, Tod und Sippenhaft. Im Osten, wo Gaddafi die Kontrolle verloren hat, öffnet sich die libysche Black-Box jetzt langsam.
Zum Vorschein kommt Fürchterliches.
Die Angst ist immer noch da, weil die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi auch nach mehr als zwei Monaten noch mehrere Städte belagern. Doch die Mauer des Schweigens hat in den Städten des Ostens, wo die Aufständischen die Kontrolle übernommen haben, erste Risse bekommen.
Zum Vorschein kommen Geschichten über Gewalt, Willkür und Sadismus, wie man sie im Irak zu Zeiten Saddam Husseins kannte: Von dem Studenten aus Bengasi, der getötet wurde, weil er im Seminarraum einen kritischen Kommentar zu Gaddafis Slogan „Das Volk hat die Macht, die Reichtümer und die Waffen“ abgegeben hatte. Von dem Fußballclub, der wegen eines Streits der Funktionäre mit Gaddafis fußballbegeistertem Sohn Al-Saadi geschlossen und verboten wurde. Von den Häftlingen, die unter grauenhaften Umständen Jahre lang ohne Anklage inhaftiert waren.
Mustafa, der als Fahrer für eine Öl-Firma in der momentan umkämpften Öl-Stadt Al-Brega arbeitet, hat nie gewagt, zu fragen, was damals aus seinem Studienkollegen wurde. Der hatte vor fünf Jahren gewagt, offen zu fragen: „Wo sind denn die Reichtümer und die Waffen? Ich habe jedenfalls nichts davon.“ Eine Woche später trug die Familie den jungen Mann zu Grabe. Niemand stellte Fragen. Die anderen Studenten erwähnten seinen Namen nicht mehr.
„Man wusste ja nicht, wem man trauen konnte, es gab so viele Menschen, die wegen eines einzigen Wortes für immer verschwanden“, sagt Mustafa nachdenklich. Er ist heute 32 Jahre alt und übt erst noch, wie es ist, mit fremden Menschen zu sprechen, ohne Angst zu haben, sie könnten ihn an die gefürchteten Revolutionskomitees verraten - den langen Arm von Machthaber Muammar al-Gaddafi.
Auch für Abdulhamid Bulifa (45) fühlt sich die neue Freiheit noch fremd an. Der rothaarige Mann mit dem trüben Blick bekommt feuchte Augen, wenn er über die Vergangenheit spricht. Doch gleichzeitig ist er froh, dass er endlich offen über die schrecklichen Jahre sprechen kann. Diese Jahre haben aus ihm einen Mann gemacht, der den Glauben an das Gute im Menschen verloren hat. Von 1994 bis 2003 saß er ohne Anklage im berüchtigten Buslim-Gefängnis.
In den ersten sieben Jahren durfte er keinen Besuch empfangen und sah überhaupt kein Tageslicht. Zusammen mit 9 bis 15 anderen Männern vegetierte er in einer dunklen Zelle ohne Fenster vor sich hin. Jeden Mittag gab es für jeden Häftling eine Schale mit 100 Gramm Reis und Wasser. „Wir waren so hungrig, dass wir das Stroh aßen, mit dem sie die Zelle auslegten - wie die Tiere“, sagt er.
Bulifa erzählt mit leiser Stimme: „Nachts holten sie uns einzeln aus der Zelle. Ich musste mich auf den Boden legen, mit dem Gesicht nach unten, dann stellte ein Gefängniswärter seinen Fuß auf meinen Nacken, während ein zweiter Wärter mit einem Kabel auf meinen Rücken schlug. Es war pure Gewalt, kein Verhör, sie stellten keine Fragen.“
2003 stellte ein Richter schließlich seine Unschuld fest. Weshalb er überhaupt inhaftiert worden war, weiß der gelernte Mechaniker, der heute als Handlanger im Großmarkt von Bengasi arbeitet, nicht. „Ich glaube, es war, weil ich einen Bart trug und regelmäßig in der Moschee betete“, sagt er. Das Gericht sprach ihm und anderen Ex-Häftlingen aus Buslim eine hohe Entschädigungssumme zu. Doch das Geld kam nie bei ihm an.