Analyse: Große Koalition, große Herausforderung, großer Wurf
Berlin (dpa) - Im Nachhinein darf man die Nachricht von Thomas Oppermann in der Nacht als für seine Verhältnisse bescheiden werten. „Gutes Ergebnis“, teilt der SPD-Fraktionschef über Twitter mit - und meint ein siebenseitiges Maßnahmenpapier der Koalition.
Beamte und Berater müssen es tagelang vorbereitet haben. Sonst hätten es die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU und SPD wohl auch in ihrem sechsstündigen Gespräch kaum fertigstellen können.
Scheitert es nicht am 24. September beim Gipfel mit den Bundesländern und auch nicht im Oktober in Bundesrat und Bundestag, könnte der großen Koalition ein großer Wurf gelungen sein. Ob die Grünen von dem Paket begeistert sind und in der Länderkammer zustimmen, darf aber noch bezweifelt werden.
In dem Maßnahmenbündel wimmelt es von zusätzlichen Millionen und Milliarden Euro für die Versorgung und Unterbringung der wohl allein in diesem Jahr 800 000 Flüchtlinge. Bundespolizei und Bundesfreiwilligendienst sollen Tausende neue Stellen bekommen. Konkrete Schritte zur Reduzierung der Asylbewerber ohne Bleibeperspektive sowie die Vermeidung von Bargeld-Anreizen schon in der Erstaufnahmephase werden genannt. Es soll auch mehr Geld für Prävention - wie die Betreuung von Flüchtlingslagern in Krisenregionen - und die Stabilisierung von Herkunfts- und Transitländern ausgegeben werden.
Union und SPD könnten damit unter Beweis stellen, was ihre Anhänger schon vor dem Koalitionstreffen gemahnt hatten: Wer, wenn nicht eine große Koalition, kann eine solche Herausforderung meistern, die zu den größten der Nachkriegsgeschichte gehören dürfte - ohne daran zu zerbrechen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte noch geschwiegen, als SPD-Chef Sigmar Gabriel längst an Brennpunkte in Deutschland gefahren und sich den Schwierigkeiten der Flüchtlingsunterbringung gestellt hatte. Zeitverzögert reagierte Merkel zunächst auch inhaltlich zaudernd, um dann vor einer Woche die große Wende einzuleiten.
Seither gilt Deutschland als moralisches und humanitäres Vorbild in der Welt. Der Kanzlerin wird zugetraut, dass sie die in Teilen auch ängstliche deutsche Bevölkerung mitnehmen kann. Die SPD wiederum stellt die meisten Ministerpräsidenten und Oberbürgermeister und kann so stark in die Fläche wirken. Der Zoff, den die CSU vor dem Treffen angezettelt hatte, erschien in der Nacht verflogen.
CSU-Chef Horst Seehofer hatte gesagt: „Wir können nicht als Bundesrepublik auf Dauer, bei 28 Mitgliedsstaaten, beinahe sämtliche Flüchtlinge aufnehmen. Das hält auf Dauer keine Gesellschaft aus.“ Das hatte Merkel aber auch nicht im Sinn. Im Gegenteil. Die Kanzlerin dringt in der Europäischen Union auf eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge. Doch gerade osteuropäische Staaten weigern sich, diese Menschen willkommen zu heißen. Deshalb hat Merkel es getan, die Grenzen für Busse und Züge voll mit Flüchtlingen aus Ungarn geöffnet. Das sonst oft deutschlandkritische Ausland ist berührt und beschämt.
Die Aufnahmeentscheidung vom Wochenende für rund 20 000 Menschen solle eine Ausnahme bleiben, heißt es in dem Papier. Das könnte Seehofer als seinen Erfolg verbuchen. Aber auch Gabriel kann sich nicht beklagen. Vor und in der Sommerpause war er in seiner Partei schwer unter Beschuss. Seine Eignung als Kanzlerkandidat wurde offen infrage gestellt. Mit seiner klaren Kante pro Asylrecht und gegen Nazis sowie der - in dem Papier festgeschriebenen - „legalen Migration“ von Menschen des Westbalkans dürfte Gabriel seine Position gefestigt haben. Letzteres wirkt ein wenig wie erste Fakten für ein Einwanderungsgesetz, das die SPD will, nicht aber die Union. Und Merkel strahlt nun als „Flüchtlings-Kanzlerin“.
Gabriel mahnt aber, rasch könne die Stimmung im Lande kippen, falls soziale schwächere Deutsche den Eindruck gewinnen sollten, für die Flüchtlinge werde auf Dauer mehr getan als für sie selbst. Das zu verhindern, gehört auch zur großen Herausforderung für die große Koalition.