Analyse: Grüne auf 30-Prozent-Kurs
Berlin (dpa) - Die Grünen sind in einem atemberaubenden Höhenflug - die FDP im brutalen Sinkflug. Nach dem grün-roten Wahlerfolg in Baden-Württemberg blinken die politischen Ampeln auch bundesweit grün.
Können die Grünen auch Kanzler? Im „Stern“-RTL-Wahltrend klettern sie um satte sieben Punkte auf 28 Prozent und erreichen mit einer Nur-noch-23-Prozent-SPD 51 Prozent. Ihr Spitzenpersonal fährt steigende Zustimmungswerte ein. Doch die Grünen demonstrieren Zurückhaltung, freilich mit staatstragendem Tonfall.
„Die Menschen suchen Halt und Verbindlichkeit und trauen uns Grünen zu, verantwortungsvolle Politik für die Zukunft zu gestalten“, sagt Parteichefin Claudia Roth. „Das freut uns, und wir sind uns der damit einhergehenden Verantwortung bewusst.“ Die Grünen ließen sich aber von schwankenden Umfragewerten nicht ablenken - sie arbeiteten an Alternativen zum schwarz-gelben Regierungsmurks.
Jetzt beginnt erstmal der Praxistest in Baden-Württemberg. Was machen Grüne, wenn sie die Richtlinienkompetenz bekommen? In Stuttgart laufen die Koalitionsverhandlungen auf Hochtouren. Schafft es der grüne Ministerpräsident in spe, Winfried Kretschmann, die Mehrheit im Land, die seine Partei nicht wählte, durch solide Arbeit zu überzeugen? Ohne linke Basisgrüne zu verprellen?
Zuerst kommt es auf Erfolge beim vor der Wahl heftig bekämpften Bahnhofsbau Stuttgart 21 an - und auf den Umbau des Kernkraftkonzerns EnBW zu einem atomfreien Stromversorger. Grün-Rot im Ländle steht zudem vor einem Spagat zwischen Haushaltsdisziplin und Erneuerung. „Wir wollen ja nicht einfach nur sparen. Wir wollen auch gestalten“, sagt Kretschmann.
Programmatisch haben die Grünen in den vergangenen Jahren einiges getan, um weg vom Krötenschützer-Image zu kommen. Mit ihrem Ziel eines „Green New Deal“ wollen sie den Kampf gegen den Klimawandel ohne AKW, die Förderung grüner Industrien und die Aufbesserung der Lage Sozialschwacher verbinden. Mit Fleiß und Akribie basteln vor allem die Bundestagsabgeordneten an konkreten Umsetzungsplänen.
Strategisch sieht sich die Ökopartei in eine neue Lage katapultiert. Nach der Atomwende der Union machen CDU-Spitzenpolitiker den Grünen Avancen. Diese reagieren kühl. „Jetzt bricht der Lieblingspartner (FDP) zusammen, und jetzt soll's wieder Schwarz-Grün sein“, wundert sich Roth. Der SPD gegenüber treten führende Grüne selbstbewusst auf.
Der Aufwärtstrend macht sich auch in der Hauptstadt bemerkbar. Nach dem neuen BerlinTREND von infratest dimap im Auftrag der rbb-„Abendschau“ und der „Berliner Morgenpost“ würde es in Berlin für Grün-Rot mit 28 Prozent (+5) für die Grünen und 26 Prozent (-2) für die SPD reichen. Spitzenkandidatin Renate Künast liegt in der Wählergunst aber weiter hinter dem Regierenden Klaus Wowereit (SPD). Und bis zu den Wahlen sind es noch fünf Monate. Niemand weiß, ob etwa das derzeitige urgrüne Top-Thema AKW-Abschaltung die Menschen dann noch so bewegt wie jetzt. Vor allem hier haben die Grünen höchste Glaubwürdigkeit.
Und Kanzler? Brauchen die Grünen einen eigenen Kandidaten? Am Tag nach Kretschmanns Wahlsieg wies Parteichef Cem Özdemir nicht definitiv zurück, dass die Grünen vielleicht selbst am Gitter des Kanzleramts rütteln könnten. „Auch außerhalb von Baden-Württemberg ist es völlig klar, dass die Wählerinnen und Wähler uns eine andere Rolle zuschreiben als in der Vergangenheit“, sagte er. Doch er betonte auch: „Das ist noch so weit weg, dass man nicht darüber spekulieren sollte.“
Mit nur 54 000 Mitgliedern reicht der Unterbau der Partei schon zahlenmäßig nicht an die anderen Bundestagsparteien heran. Mit Unbehagen registrieren führende Realos, dass die überschießenden Erwartungen in ihre Partei zudem in einem gewissen Gegensatz stehen zu deren programmatischer Lage. Zu einem realistischen Wahlprogramm für 2013 ist es ihrer Ansicht nach noch ein weiter Weg. Vor allem im Sozialen versprächen die Grünen bislang mehr, als sie bezahlen könnten. Bereits am Abend nach dem Wahlsieg im Südwesten stöhnte ein Abgeordneter: „Ich weiß gar nicht, was mich mehr überwältigt: Die Freude über die Neuzeichnung der politischen Landkarte Deutschlands oder die Größe der Verantwortung der Grünen.“