Analyse: „Kiew führt Krieg gegen uns“
Kramatorsk/Donezk (dpa) - Der Kampf zwischen Regierungstruppen und prorussischen Kräften um die Ostukraine wird immer blutiger. Tote gibt es in Slawjansk. Doch auch im nahe gelegenen größeren Kramatorsk beklagen militante Regierungsgegner die ersten Opfer.
Notdürftig haben Frauen im Keller der Stadtverwaltung von Kramatorsk Krankenzimmer mit Betten für Verletzte eingerichtet. „Die Regierung in Kiew führt Krieg gegen uns“, sagt eine Krankenschwester. Die Großstadt mit 160 000 Einwohnern ist längst auch Ziel der „Anti-Terror-Operation“ der Zentralregierung in dem prorussischen Gebiet. Hier, nur wenige Kilometer von der heftig umkämpften Stadt Slawjansk entfernt, gab es ebenfalls Tote bei Angriffen der Regierungstruppen aus Kiew.
„Wir sind unbesiegbar“, sagt der Kommandeur der schwer bewaffneten und maskierten Uniformierten, die die Verwaltungsbehörde besetzt haben. Kaban (Keiler) nennt sich der Mann mit der Maschinenpistole, Marke Kalaschnikow. Die „Volksbefreiungsarmee Donbass“, sagt er, werde kämpfen bis zum Schluss für die „Volksrepublik Donezk“.
Die schwarz-blau-roten Fahnen der fiktiven Republik sind schon in der ganzen Region zu sehen. Sitz der „Volksregierung“ ist die 90 Kilometer entfernte schillernde Millionenstadt Donezk, wo ebenfalls öffentliche Gebäude besetzt sind.
Kaban, ein Mann um die 40, erzählt mit rauer Stimme, er sei Manager gewesen, bevor er sich dem Widerstand gegen die „faschistische Junta“ in Kiew anschloss. Waffen und Munition hätten sich die Männer in gestürmten Polizei- und Geheimdienstgebäuden besorgt. Doch wer ihnen Befehle gibt und woher „Geldspenden“ kommen, sagt er nicht.
Zumindest einige geben zu, sie seien Söldner - für solche Einsätze käufliche Soldaten. Interimspräsident Alexander Turtschinow sieht die Familie des im Februar gestürzten Staatschefs Viktor Janukowitsch als Finanzier der Aufstände. „Russische Geheimdienste benutzen die frühere ukrainische Führung nicht nur finanziell, sondern auch für die Organisation (des Aufstandes)“, sagt er. Bewiesen ist das freilich ebenso wenig wie der Vorwurf der Russen, die prowestliche Revolution in Kiew sei von den USA finanziert.
Die Aktivisten im Haus der Stadtverwaltung hoffen darauf, dass die schon an der ukrainischen Grenze stationierten russischen Truppen zur Hilfe kommen. Kremlchef Wladimir Putin hatte einen Einmarsch für den Ernstfall angedroht. „Wir verlassen uns aber nicht auf Putin und sind selbst bereit zum Kämpfen“, sagt ein junger Bewaffneter. „Wir werden nicht zulassen, dass die Junta aus Kiew hier das Sagen übernimmt.“
Ein 55 Jahre alter Afghanistan-Veteran sagt, dass er sich eben erst dem Widerstand angeschlossen habe. „Ich konnte nicht mehr ruhig daheim sitzen“, sagt er. Seit dem Zerfall der Sowjetunion gebe es Chaos in der Ukraine. „Ich will, dass es meine Kinder mal besser haben.“ Er ruht sich im Konferenzsaal des Verwaltungsgebäudes aus - in der obersten Etage, wo Behördenmitarbeiter weiter ihre intakten Amtsstuben haben.
Im Versorgungstrakt im Keller führt die 37 Jahre alte Swetlana Buch über Lebensmittelspenden. „Wir sind einfache Leute, die für den Erhalt unserer Kultur und Traditionen kämpfen“, sagt sie. Die Regierung in Kiew wolle nicht nur die russische Sprache zurückdrängen, sondern auch westliche Werte einführen. „Ich habe meine Arbeit als Buchhalterin aufgegeben, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen - gegen eine Diktatur der USA“, sagt sie.
An ihrer Seite hat Swetlana ihren 18 Jahre alte Sohn als „Beschützer“. In einer Küche kochen Frauen für die Kämpfer, eine ältere von ihnen sagt mit euphorischem Blick, dass sie am Vormittag als Mathelehrerin arbeite, am Nachmittag für den Widerstand. Dass sich Präsident Janukowitsch im Amt bereichert und die demokratischen Fortschritte im Land wieder rückgängig gemacht hat, ficht die Frauen nicht an.
„Sie klauen doch alle, wenn sie in hohen Ämtern sind. Und klammern sich an die Macht. Das sind menschliche Schwächen“, sagt Swetlana. Sie sei für eine „harte Hand“ - wie die von Putin. „Wir Slawen sind ein aufrührerisches Volk, das zu Revolutionen neigt - da braucht es Führung.“ Die meisten Menschen hier - wie in der gesamten Region Donezk - sehnen sich wieder nach Stabilität.
Auch in der Gebietshauptstadt Donezk versuchen die Menschen, so weit wie möglich ihrem Alltag nachzugehen. „Sicher wird niemand auf unbewaffnete Bürger schießen. Aber es ist klar, dass sich das alles (die Volksrepublik) hier schon nicht mehr einfach so auflöst“, sagt die Verkäuferin Tatjana in einem Laden am Puschkin-Boulevard. Gegenüber laufen etwa 40 Frauen mit Ikonen in der Hand singend durch die Fußgängerzone. „Geb Gott, dass alles gut wird!“, sagt eine Chorfrau. „Wir sind weder für die eine noch die andere Seite. Wir beten für Frieden.“