Analyse: Lindners Mond-Mission
Berlin (dpa) - Willkommen im politischen Untergrund: Die Liberalen spüren den Abstieg hautnah. Am Gleisdreieck in Berlin-Kreuzberg, vor langer Zeit wichtiger Knotenpunkt der Eisenbahn, haben sie am Wochenende ein blau-gelbes Banner an die Backsteine gedübelt: „Liberal sein heißt auch mutig sein.“ Ein Zitat von Thomas Dehler.
Die tapferen Mitglieder, von denen Hunderte ihre Bundestagsjobs verloren haben, leben es vor. Erhobenen Hauptes kommen sie durch den Schneeregen zum Parteitag, gehen durch ein sakrales Backstein-Gewölbe in eine ehemalige Lokhalle. Früher buchte die Partei andere Locations: „Schluss mit Schickimicki“, meint dazu der ehemalige Bundestagsabgeordnete Michael Kauch. Die auf Posten fixierte Partei habe eine Erdung gebraucht.
Dafür sorgten die Wähler mit 4,8 Prozent, die von der FDP nichts mehr wissen wollten. Es wird lange dauern, das ramponierte Image zu korrigieren. Als sozial kalte Lobbytruppe werden die Liberalen gesehen. Dabei haben sie ein modernes Programm. Bürgerrechte, Datenschutz, bunte Ehen und Familien. Nur hat es im Wahlkampf niemand glaubwürdig erzählen können.
Seit diesem Wochenende hat die FDP wieder so einen. Der erst 34 Jahre alte Christian Lindner hatte zwei umjubelte Auftritte. Am Samstag: 15 Minuten für eine Bewerbungsrede, die den verunsicherten Laden rockte und Lindner 79 Prozent Zustimmung brachte. Nebenbei setzte er seine Wunschkandidaten für die Vize-Posten locker durch, wurde der Euro-Rebell Frank Schäffler von der Basis klar in die Schranken verwiesen.
Am Sonntag folgten 70 Minuten für eine Regierungserklärung in eigener Sache. Nie wieder soll die FDP wie seit Kohl-Zeiten nur noch Funktionspartei sein, die um Leihstimmen der Union bettelt. Lindner will raus aus den Schützengräben der Lagerwahlkämpfe. Für die Liberalen eine logische Konsequenz, weil die Union ihr nichts mehr gönnte und die SPD für 2017 längst Rot-Rot-Grün blinkt.
Die FDP schaue nur noch auf sich, nicht mehr auf mögliche Koalitionspartner: „Die Partei ist so eigenständig und unabhängig wie niemals zuvor in ihrer Geschichte“, sagte Lindner. Das hatte auch Philipp Rösler geschworen, in seiner Antrittsrede 2011 in Rostock. Im Endspurt der zurückliegenden Wahl reduzierten sich die Liberalen dann doch wieder auf den Spruch: „Wer Merkel will, wählt auch FDP.“
Jetzt aber justiert Lindner den Kompass neu, nach dem sich die FDP ausrichten soll. Die Partei sei nicht Kumpel der Bosse. Die „Anarchie der Raffer“ in den Banken müsse beendet werden. In der sozialen Marktwirtschaft dürfe niemand „too big to fail“ sein - zu groß zum Scheitern. Mit diesem Argument waren die Geldhäuser in der Krise mit Unsummen gerettet worden.
Der Hoffnungsträger glaubt, dass die FDP das menschenfreundlichste Programm bietet - weil es die Chancen des Einzelnen unterstreiche. Sinngemäß ein „Das Du entscheidet“ in Abgrenzung zum SPD-Wahlslogan „Das wir entscheidet“. Viele Bürger fühlten sich alleingelassen, ohnmächtig angesichts der Angst vor Altersarmut, staatlicher Schnüffelei im Internet und Abermilliarden für den Wohlfahrtsstaat.
Und jetzt behaupteten Union und SPD, sie hätten den Koalitionsvertrag für die „kleinen Leute“ geschrieben. „Wenn eine Regierung von ihrem Souverän von den kleinen Leuten spricht, nimmt sie die nicht ernst, sondern macht sie zu ihren betreuungsbedürftigen Mündeln“, schimpfte Lindner. Das sei respektlos.
Wenn künftig jemand einen Liberalen frage, was er dem einzelnen Bürger zutraue, solle die Basis sagen: Alles ist möglich, wie einst in Amerikas Raumfahrt. US-Präsident John F. Kennedy habe einmal den Stützpunkt Cape Canaveral besucht, wo die Mondmission startete, und dort einen Mann getroffen, der eine leere Halle fegte. „Was machen Sie hier?“, habe Kennedy gefragt. Der Arbeiter habe salutiert: „Einen Mann auf den Mond bringen!“
Hebt die FDP schon wieder ab, lässt sie sich von Lindner zum unrealistischen Griff nach den Sternen verleiten? Wohl kaum. Lindner dürfte auf dem weiten Weg zurück in den Bundestag mit einem ordentlichen Ergebnis bei der Europawahl vorerst zufrieden sein.