Analyse: Merkel kämpft gegen Skepsis in Brüssel

Brüssel (dpa) - Es ist - mal wieder - einer dieser vielen kleinen Schritte, mit denen Angela Merkel (CDU) erfolgreiche Politik macht. Die emotionalen Gesten der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise waren gestern, jetzt geht es, typisch Brüssel, um Geld, Geduld und um den Fortschritt im Kleinen.

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„Wir haben ein umfassendes Problem, das wir nur gemeinsam in Europa lösen können“, sagt die Kanzlerin, und findet dafür bei aller Kritik an der deutschen Politik der Öffnung und Schließung der Grenzen auch Unterstützung. Auch wenn sich eine Minderheit der Mitglieder weiter gegen die Erkenntnis sträubt, dass Solidarität in Europa und Verzicht auf nationale Souveränität zwei Seiten der selben Medaille sind.

Eine Milliarde Euro für die humanitäre Versorgung syrischer Flüchtlinge in den Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes, mehr Geld vor allem für die Türkei, auch für Afrika, für die Grenzschutzagentur Frontex. Das klingt machbar. Die Frage ist nur, ob Europa damit der Bewältigung des Flüchtlingsdramas wirklich näher kommt.

Wichtiger als der Sondergipfel am Mittwochabend war die Entscheidung der Innenminister am Tag davor, nun doch mit Mehrheit die Verteilung von 120 000 Flüchtlingen auf die Mitgliedsländer zu beschließen. Rumänien, Ungarn, Tschechien und die Slowakei wurden überstimmt, wie es der Vertrag von Lissabon möglich macht.

Doch ist das wirklich der große Durchbruch in der europäischen Flüchtlingspolitik? Das darf bezweifelt werden. In den Krisengebieten sind Millionen Menschen auf der Flucht und sehen Europa als sicheren Hafen. „Die größte Flüchtlingswelle liegt noch vor uns“, warnt EU-Gipfelchef Donald Tusk. Allen ist deshalb klar, dass Europa dauerhaft die Lasten teilen muss, damit Griechenland und Italien nicht zusammenbrechen.

Hält der Widerstand von Ungarn und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten an, könnte das die Union vor die Zerreißprobe stellen. Noch einmal die Gegner im Ministerrat zu überstimmen, wäre ein Affront, der das Verhältnis auf lange Zeit belasten würde. Und Ungarn droht unverhohlen schon wieder mit neuen Grenzschließungen. Sollte das weiter Schule machen, dann würde es das Schengen-Prinzip der Reisefreiheit für die Bürger, das als große Errungenschaft Europas gilt, sprengen. „Alle waren sich einig, dass es so nicht weiter gehen kann, sonst wird der Schengen-Raum zerfallen“, sagt Tusk.

Immerhin ist man sich in einem Punkt einig: Dass man die Außengrenzen besser schützen mus. Spätestens beim EU-Gipfel im Oktober muss Europa neue Antworten finden. Dann muss man sich auch einig werden, ob die Staaten wegen der Milliardenausgaben für die Aufnahme und Integration von Migranten künftig mehr Schulden machen dürfen. Das würde ein neues Licht auf den Maastricht-Vertrag werfen. Deutschland ist dagegen - doch die EU-Kommission will das prüfen. Da ist neuer Streit vorprogrammiert.

Etwas wirklich neues zur Flüchtlingspolitik sagt Merkel an diesem Abend in Brüssel nicht, bis auf eine Bemerkung fast nebenher. „Es muss mit vielen Akteuren gesprochen werden, auch mit Assad“, sagt sie, und spricht sich damit erstmals für direkte Gespräche mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad aus. „Wir müssen außenpolitisch aktiver werden“, betont sie und meint: Fluchtursachen bekämpfen ist ein dickes Brett.

Merkel will es sich in Brüssel mit niemanden verderben, und deshalb darf sich auch der schärfste Kritiker ihrer Flüchtlingspolitik weiter deutscher Unterstützung erfreuen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hatte eben noch - auf einer CSU-Klausur in Franken - der deutschen Politik „moralischen Imperialismus“ vorgeworfen. Gipfelteilnehmer werfen ihm „butale Rhethorik“ vor. Aber Merkel bleibt freundlich: „Da gibt es Punkte der Übereinstimmung, da gibt es auch durchaus unterschiedliche Einschätzungen.“

Am Ende, da ist es wieder weit nach Mitternacht in Brüssel, ist die Kanzlerin zufrieden. „Wir sind wieder einen der vielen noch notwendigen Schritte vorangekommen“, sagt sie. Ihr Terminkalender erfordert nun allerdings mehr als Schritttempo. Keine acht Stunden nach Ende des Gipfels steht sie in Berlin im Bundestag und gibt eine Regierungserklärung ab. Um 15.00 Uhr beginnt dann der Bund-Länder-Gipfel zur Flüchtlingskrise. Und irgendwann am späteren Abend besteigt Angela Merkel den Regierungsflieger zur UN-Vollversammlung nach New York.