Analyse: Merkels Flüchtlingshilfe und der Hass in Heidenau
Heidenau/Berlin (dpa) - Heidenau hat der Kanzlerin noch einmal sein hässliches Gesicht gezeigt. Als Angela Merkel in die sächsische Kleinstadt fährt, bekommt sie genau den Hass zu spüren, der am Wochenende Flüchtlingen entgegenschlug.
Diesmal werfen Rechtsextremisten zwar keine Steine, aber Demonstranten skandieren „Volksverräter, Volksverräter“. Sie rufen „Pfui“ und „Buh“ und „Merkel muss weg“ und bedienen sich ihr gegenüber der Fäkalsprache.
Die Erwartungen an Merkel sind hoch. Es ist das erste Mal überhaupt, dass sie als Kanzlerin ein Flüchtlingsheim besucht. Wie scharf wird ihre Kritik an den Ausländerfeinden und Claqueuren ausfallen? Um es vorweg zu nehmen: Die wirklich deutlichen Worte findet an diesem Tag der Bundespräsident in einem Flüchtlingsheim in Berlin. Joachim Gauck spricht vom „hellen Deutschland“ - den vielen freiwilligen Helfern - und „Dunkeldeutschland“ - den „Hetzern“ und Brandstiftern“, deren „Verunzierung des Landes“ nicht geduldet werden dürfe.
Merkel sagt zwar auch: „Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen.“ Und: „Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die nicht bereit sind, zu helfen, wo rechtlich und menschlich Hilfe geboten ist.“ Sie findet es auch „beschämend und abstoßend ist, was wir erleben mussten“. Aber die von manchen erhoffte „klare Kante“, „die „Faust auf dem Tisch“, ein Donnerwetter gibt es nicht.
Die Öffentlichkeit, die ihren Auftritt auch live im Fernsehen verfolgen kann, erlebt erneut eine Kanzlerin, die sehr wenig Gefühle zeigt und sich bis zum Perfektionismus unter Kontrolle hat. Sie lässt sich nicht von niederträchtigem Gebaren selbst ernannter Wutbürger provozieren. Sie spricht in die Mikrofone und rauscht ab zum nächsten Termin. Es muss noch ein Betrieb in Sachsen eingeweiht werden.
Merkel brauchte einige Tage, um an den Brennpunkt zu fahren. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) war schon am Montag dort und hatte von „Pack“ gesprochen. In Heidenau riefen sie am Mittwoch deshalb Merkel zu: „Wir sind das Pack.“
Der sonst in heiklen Situationen eher zurückhaltende sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich liefert sich überraschend ein heftiges Wortgefecht mit einem Mann, der die Asylbewerber Schmarotzer nennt. Christdemokrat Tillich fragt ihn, warum er mit „dem rechten Pack“ sympathisiere.
Mohammed aus Herat in Afghanistan hat 40 Tage gebraucht, um nach Deutschland zu gelangen. Vor einer Woche ist er angekommen, seit drei Tagen ist er in Heidenau, in der Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt. Mohammed sagt, größtenteils sei er den Weg gelaufen. Der 19-Jährige zeigt seine geschundenen Füße in den offenen Sandalen.
Als die internationalen Truppen aus seinem Heimatland abzogen, sei auch für ihn die Zeit gekommen zu gehen. Er zeigt Narben an Kopf und linkem Ohr: Das „waren die Taliban“. Trotz der Krawalle sei Deutschland „ein sehr, sehr gutes Land“, sagt Mohammed. Und der Besuch von Kanzlerin Angela Merkel in dem Heim mache ihn „glücklich“.
Dagegen sagt ein 65-jähriger Heidenauer, der an einem Stehtisch einer Tankstelle ein Bier trinkt, auf die Frage, was er von Merkels Auftritt halte: „Das ist mir Bockwurst.“ Und: „Das bringt eh alles nichts.“ In Heidenau seien alle gegen das Flüchtlingsheim, das ein paar hundert Meter weiter an der Bundesstraße nach Dresden liegt. Ein anderer sagt: „Die Gewalt war Scheiße. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Jetzt gehen die Menschen arbeiten, aber am Wochenende stehen alle wieder da.“
Die evangelische Pfarrerin der Christuskirche in Heidenau, Erdmute Gustke, sagt: „Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind erschüttert, dass es zu solcher Gewalt kommen konnte. Die große Zahl derer, die mit den Neonazis sympathisierten und am Freitag mitgelaufen sind, macht uns betroffen.“
An den Straßen wehen Deutschland-Fahnen. Vor Merkels Ankunft sagt Gustke, die Kanzlerin stärke Politikern und den Menschen, die sich für die Asylbewerber engagieren, mit ihrem Besuch den Rücken. Als Merkel wieder abgefahren ist, sagt die Pfarrerin: „Das war mehr als ein symbolischer Akt. Das war mehr als: Ich lass mich mal blicken und bin dann wieder weg.“
Beurteilen können das am ehesten jene, die wie Gustke Merkel im Gespräch mit den Flüchtlingen erlebt haben. Das geschah hinter verschlossenen Türen. Draußen vor laufenden Kameras dankt Merkel all jenen in Heidenau, die sich gegen die von Bürgermeister Jürgen Opitz (CDU) als „brauner Mob“ bezeichnete rechte Truppe stemmen. Merkel sagt: „Danke denen vor Ort, die auch den Hass zu ertragen haben. (...) Das ist nicht einfach.“