Analyse: Merkels Gipfel der Wahrheit
Berlin (dpa) - Hohn und Spott macht sich Angela Merkel selten zu eigen. Zumindest öffentlich ist die Kanzlerin so kaum zu vernehmen. Auf den Vorwurf des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, die Flüchtlingspolitik (Merkels) sei eine „Herrschaft des Unrechts“, reagiert sie zum Beispiel gar nicht.
„Das kommentiere ich nicht“, sagt sie trocken und hat dabei auch die Gesichtszüge unter Kontrolle. Kein Mundwinkel, keine Augenbraue geben Auskunft über ihr Innerstes.
Das heißt nicht, dass Merkel sich nicht auf Spott versteht. Zu erleben meistens in kleinerem Kreis und dann, wenn sie ihre Zuhörer für verständig hält. Wie beim traditionsreichen Matthiae-Mahl am Freitagabend in Hamburg mit dem britischen Premier David Cameron, Konsulatsvertretern und Politikern. „Viele sagen mir in diesen Tagen immer: Es gab auch ein Leben vor Schengen“, setzt Merkel in Bezug auf das internationale Abkommen zur Abschaffung stationärer Grenzkontrollen an. Und weiter: „Ich antworte dann: Ich weiß, es gab auch ein Leben vor der Deutschen Einheit. Da waren die Grenzen noch besser geschützt.“ Merkel-Sarkasmus.
Applaus im Publikum. Beifall, der gut tut - und spärlich ist in diesen Zeiten von Merkels Mantra der offenen Grenzen. Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag droht der CDU-Vorsitzenden so etwas wie die Stunde der Wahrheit. Und ein Scheitern. Auch die eigene CDU und die CSU-Schwesterpartei von Seehofer erwarten Ergebnisse - Stoppschilder für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien sowie der Menschen, die aus Angst vor gewaltsamem Tod oder tödlicher Armut aus Ländern wie Afghanistan, Pakistan, Eritrea oder Somalia fliehen.
Doch Merkel kann sich keine großen Hoffnungen auf die so dringend benötigte Solidarität in der Europäischen Union machen. Einen Tiefschlag noch vor dem Gipfel versetzt ihr ausgerechnet der engste Verbündete Frankreich mit einer Erklärung, Paris sei gegen ein dauerhaftes System zur Umverteilung von Flüchtlingen.
Das aber ist Merkels Plan: Erstens Fluchtursachen bekämpfen (das dauert Jahre, funktioniert nur mit viel Geld und Friedenspolitik von Washington bis Moskau). Zweitens: Enge Zusammenarbeit mit der Türkei zur Überwachung der EU-Außengrenzen (auch das geht nicht von heute auf morgen). Und eben drittens: Die Flüchtlinge, die legal nach Europa kommen, auf die EU-Staaten solidarisch zu verteilen.
Doch die Koalition der Willigen, die Merkel aus ihrer zunehmenden innenpolitischen Isolierung helfen könnte, schrumpft. Nun kann sie auch nicht mehr auf Frankreich zählen, das noch am Rande des EU- Gipfels im Dezember an einem Mini-Gipfel mit Deutschland, Österreich, den Benelux-Staaten, Finnland, Schweden, Portugal, Griechenland und Slowenien teilnahm, um zunächst im kleinen Kreis mit der Türkei eine Lösung der Krise zu erörtern. Diesmal soll es wieder einen Mini-Gipfel geben. Auf wen sich Merkel verlassen kann, erscheint offen.
Die Gefahr einer Spaltung der Europäischen Union zeigt sich auch daran: Die vier sogenannten Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wehren sich vehement gegen Quoten und eine nennenswerte Aufnahme von Flüchtlingen. Sie und andere Länder, darunter auch Österreich, Kroatien und Slowenien, wollen lieber Mazedonien helfen, die sogenannte Balkanroute abzuriegeln, weil Griechenland die EU-Außengrenze nicht schützen könne.
Merkel lehnt die (Wieder-)Errichtung von Grenzzäunen in Europa ab. Sie ist überzeugt: Menschen lassen sich von Mauern nicht abhalten, wenn sie ihr Land verlassen wollen und dafür den eigenen Tod in Kauf nehmen. Sie hat es in der DDR erlebt. Für diese Überzeugung nimmt Merkel womöglich auch ihr Scheitern als Kanzlerin in Kauf.
Würde sie sich doch noch auf eine Obergrenze für Deutschland einlassen, müsste sie nach ihrem eigenen Anspruch wohl zurücktreten. Sie hätte ihr „Wir schaffen das“ dann nicht geschafft. Und kommt es nicht bald zu der ja auch von Merkel angestrebten „spürbaren Reduzierung“ der Flüchtlingszahlen, dürften ihre Umfragewerte weiter sinken und Unmut und Angst in der Union vor Wahlniederlagen die Kritiker zu noch größerem Widerstand gegen ihre Chefin motivieren. Dabei sagt Merkel zu aller Verschärfung des Asylrechts Ja und befürwortet selbst einen Nato-Einsatz gegen Schleuser in der Ägäis.
Seehofer wünscht Merkel „mit einem heißen Herzen“ Erfolg für den Gipfel. Er wolle sich gar nicht vorstellen, was es sonst für Probleme geben werde. Er selbst kann sich schon einmal vorstellen, die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht zu verklagen. Und zwar noch vor den Landtagswahlen im März. Und die FDP fordert, Merkel müsse dann die Vertrauensfrage im Bundestag stellen.
Ist Merkel innenpolitisch so stark wie nie unter Druck - im Ausland genießt sie Anerkennung. Sogar von jenen, die Deutschland einst vernichten wollte. So sagt die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger: „Dieses Land, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen dank seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit, mit der Sie syrische und andere Flüchtlinge aufgenommen haben und noch aufnehmen.“ Eine Anerkennung für das ganze Land.