Analyse: Mursis Ausbootung reizt Islamisten bis aufs Blut
Kairo (dpa) - Wieder einmal ist Kairos Innenstadt an manchen Stellen ein Trümmerfeld. An der 6. Oktober-Brücke kehrt die städtische Müllabfuhr am Samstag den Schutt und die Scherben der nächtlichen Straßenschlachten weg.
Anhänger und Gegner des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi waren hier zu Hunderten mit Stöcken, Eisenstangen, Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails aufeinander losgegangen. Es gab viele Tote und Verletzte.
Am vergangenen Mittwoch hatte die Armeeführung Mursi entmachtet, den ersten freigewählten und zivilen Präsidenten in der Geschichte des Landes. Ein Jahr lang hatte der dogmatische Funktionär aus der Muslimbruderschaft chaotisch und autoritär regiert und damit am Ende Massenproteste mit Dutzenden Toten provoziert. Jetzt protestieren die Islamisten in Massen, und wieder sind Dutzende Tote zu beklagen. Der Coup der Militärs hat die Anhängerschaft der gut organisierten Bruderschaft zunächst schockiert und dann in Rage versetzt.
Deren Führung hat sich zwar im Prinzip für friedlichen Widerstand ausgesprochen, und die gewaltbereiten Islamisten sind bislang nur eine Randerscheinung. Doch die Wut kocht hoch, das Wahlvolk der Bruderschaft fühlt sich um die Früchte eines legitimen Urnengangs betrogen. Hunderttausende Anhänger strömten im ganzen Land zum „Freitag der Ablehnung“ zusammen. Zehntausende kamen zur Hauptkundgebung im Kairoer Außenbezirk Nasr City. „Ich bin Lehrer“, sagte der 38-jährige Mustafa Ali, „aber wie soll ich vor meine Schüler treten und ihnen etwas von Freiheit erzählen, wenn ich das hinnehme?“
Am Abend trat Mohammed Badia, der spirituelle Führer der Muslimbruderschaft, vor die Menge, begeistert empfangen. Weder rief er explizit zu Friedfertigkeit noch zu Gewalt auf. „Möge Gott die Feinde des Islams zerstören“, donnerte er, und: „Unsere entblößten Oberkörper sind stärker als Gewehrkugeln.“ Das mag jeder deuten, wie er will - als Aufruf zum gewaltfreien Widerstand oder als Anspielung auf das gottgefällige Märtyrertum des Rechtgläubigen, der seinen Feinden an Bewaffnung unterlegen ist. Konkret rief Badia noch dazu auf, „auf der Straße zu bleiben“, bis Mursi wieder im Amt sei.
Tatsächlich ist der Umgang der Militärführung mit den politisch ins Abseits manövrierten Muslimbrüdern ambivalent. Etliche ihrer Spitzenleute, unter ihnen Mursi, ließ sie festsetzen, einige sind inzwischen wieder frei. Die Fernsehsender der Islamisten wurden geschlossen. Zugleich sind ihre Spitzen zu den Verhandlungen über die künftige zivile Regierung eingeladen. Zutiefst beleidigt, wie sie sich fühlen, schlugen sie das Gesprächsangebot zunächst aus.
Doch soll das Land wieder zur Ruhe kommen, führt an der Wiedereinbindung des Mursi-Lagers in den politische Prozess kein Weg vorbei. „Die Muslimbrüder sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft“, meinte der Oppositionsführer Mohammed ElBaradei im Interview mit dem „Spiegel“. Er warnte vor einer Hexenjagd gegen die Anhänger des ausgebooteten Präsidenten. „Niemand darf ohne triftigen Grund vor Gericht gestellt werden“.
Die Kairoer Medien hatten den Ex-Diplomaten und Friedensnobelpreisträger am Samstagabend schon zum Chef der künftigen Übergangsregierung gekürt. Später wurde das dementiert. Seine zügige Ernennung scheiterte am Widerstand der Salafisten, jener ultra-frommen Islamisten, die zunächst mit den Muslimbrüdern verbündet waren, sich aber zuletzt der Oppositionsallianz um ElBaradei angeschlossen hatten. Ihnen ist der weltläufige Gentleman-Politiker zu liberal. Der Neuanfang am Nil bleibt schwierig.