Analyse: Neonazi-Morde machen ratlos
Berlin (dpa) - Es wurden Fehler gemacht, reihenweise. Es wurde geschlafen, über zehn Jahre lang, und es sollte nicht sein, was nicht sein durfte.
Nicht die Morde an neun Migranten und einer Polizistin erschütterten die Republik, sie wurden über viele Jahre nach jeweils kurzem Aufwallen größtenteils als Einzelfälle rasch wieder ignoriert. Betroffen macht vor allem das offenkundige Versagen von Politik und Sicherheitsbehörden im Kampf gegen gewalttätige Neonazis.
Von einer lückenlosen Aufklärung der Mordserie sind die Behörden noch weit entfernt. Noch beherrschen Spekulationen, Gerüchte und ungesicherte Behauptungen die Szene. Helfer und Unterstützer sind wohl zahlreicher gewesen als zunächst angenommen, das stellt zumindest das Parlamentarische Kontrollgremium für die Geheimdienste in seiner ersten Sitzung in Berlin fest.
Das Misstrauen gegen die Dienste ist immerhin so groß, dass Thüringen eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzt. Auch die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss des Bundestages wird lauter.
Beispielhaft für die ganze unglaubliche Affäre steht ein Mann aus Hessen: Erschreckend, absurd und kaum zu fassen sind die Informationen über den ehemaligen Verfassungsschützer, der zumindest an einem der Tatorte - am 6. April 2006 in Kassel - gesehen worden ist. Der hessische Verfassungsschutz schweigt aus, welche Rolle einer seiner Beamten in der Neonazi-Mordserie gespielt hat.
Thomas Oppermann (SPD), der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, hat nach der Sitzung am Dienstag wohl nicht alles sagen dürfen, was er weiß. Aber: Immerhin ist nun offiziell, dass der Mann aus Hessen eine „stark rechte Gesinnung“ hat, dass er zwar vom Dienst suspendiert, aber doch noch im hessischen Staatsdienst beschäftigt ist. Wo und in welcher Funktion? Das bleibt offen. Er habe jedenfalls in Kassel unmittelbar vor dem Mord an einem 21-jährigen Türken das Internetcafé verlassen, wo sich der vorläufig letzte der Morde ereignete.
Vielleicht war es aber auch anders, berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter Berufung auf Sicherheitskreise. Danach war der „hagere Mann mittleren Alters“ vielleicht doch direkter Zeuge des Mordes. Die „Bild“-Zeitung berichtet, er habe während des brutalen Mordes zwar im Café gesessen, will aber nichts von der Bluttat mitbekommen haben, weil er Sexseiten im Internet angesehen habe. Weiter unbestätigt bleibt das Gerücht, der Mann sei nicht nur in Kassel, sondern bei insgesamt sechs Morden in der Nähe der Tatorte gewesen. Dies sei nicht der Stand der Ermittlungen, hieß es aus dem Kontrollgremium. Aber was dann?
Ganz allmählich gewinnen nun auch besonnene Stimmen Gehör, die die schockwellenartigen Reaktionen der letzten Tage ein wenig relativieren. Erstaunlich genug: Im Ausland wird die rechte Mordserie in Deutschland eher sachlich und gelassen zur Kenntnis genommen. Kaum jemand zieht Parallelen zu Adolf Hitler, Auschwitz und dem Holocaust.
Der Berliner Extremismus-Experte Hans-Gerd Jaschke weist sogar das Etikett „Rechtsterrorismus“ zurück, das Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich am Wochenende zügig benutzt hatte. Für Terrorismus fehlten wichtige Kennzeichen. Jaschke sagt im Deutschlandradio Kultur, die Zwickauer Gruppe habe über zehn Jahre keinerlei propagandistische Aktivitäten unternommen. Er könne ja verstehen, dass Menschen mit dem Begriff Terrorismus ihre Abscheu zum Ausdruck bringen wollten, sagt Jaschke. „Aber in der Sache liegen wir da daneben.“