Analyse: Protestierer sehen Referendum als Schachzug

Istanbul (dpa) - Die türkische Regierung steht international schwer in der Kritik. Ministerpräsident Erdogan bringt nun eine Volksabstimmung ins Spiel. Er will zwischen guten und schlechten Demonstranten unterscheiden und droht der Protestbewegung.

Zwei Wochen dauern die heftigen Proteste in der Türkei nun schon an. Jetzt sucht die islamisch-konservative Regierung einen Ausweg. Eine friedliche Nacht auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park war nur eine Atempause. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bringt eine Volksabstimmung über die umstrittene Bebauung des Parkes ins Spiel. Doch die Demonstranten befürchten, Erdogan wolle damit nur einer Diskussion über Grundrechte, Polizeibrutalität und die Einschränkung persönlicher Freiheiten ausweichen.

„Zu Beginn der Proteste wäre eine Volksabstimmung eine gute Idee gewesen. Das wäre direkte Demokratie. Aber jetzt ist es Teil eines taktischen Spielchens“, sagt eine 22-jährige Istanbulerin, die nach einer langen Nacht Kaffee vor ihrem im Protestlager errichteten Zelt trinkt. „Das hat sich jemand schön ausgedacht, aber nicht zum Wohl der Menschen. Ich bin absolut dagegen. Es würde nur um die Frage für oder gegen Erdogan gehen.“

Erdogan richtete an die Demonstranten im Protestlager am Rande des Taksim-Platzes am Donnerstag auch eine „letzte Warnung“, wieder einmal. „Unsere Geduld ist am Ende“, sagte der Regierungschef. Er habe verfügt, dass die Polizei den Taksim-Platz binnen 24 Stunden von Plakaten und Spruchbändern säubern solle. Eltern sollten ihre Kinder aus dem Protestlager holen, damit die Polizei gegen Randalierer und Extremisten vorgehen könne.

Der Taksim-Platz - ein auch bei Touristen beliebtes Ziel - ist seit Monaten Großbaustelle. Zum Projekt gehört eine Untertunnelung, der Abriss des Atatürk-Kulturzentrums an der Nordostseite des Platzes und der Nachbau einer osmanischen Kaserne im Gezi-Park. Das ganze Großprojekt war lange umstritten. Aber die brutale Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park vor zwei Wochen löste die größte Krise seit dem ersten Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 aus.

Bei den Demonstrationen in vielen türkischen Städten gibt es inzwischen mehrere Tote und Tausende Verletzte. Bilder dramatischer Polizeigewalt sind um die Welt gegangen. Erdogan droht auch international Freund und Feind. Er hängt Verschwörungstheorien an und kündigt „Abrechnungen“ an. Von der EU will er sich schon gar nichts mehr sagen lassen, wie er am Donnerstag sagte.

Dass nun die Uhr mit einer Volksabstimmung gewissermaßen wieder auf Null gestellt werden soll, wollen die Demonstranten nicht akzeptieren. Zumal Erdogan mehr über die Protestbewegung als mit ihr spricht. Er hatte am Vortag Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zum Dialog eingeladen, nicht aber die Taksim-Plattform, die zu den wichtigen Organisatoren der Proteste zählt.

Die Plattform beharrt auf Forderungen wie der Freilassung inhaftierter Demonstranten und einer Entlassung und Bestrafung der Verantwortlichen für brutale Polizeieinsätze. Die Regierung müsse aufhören, die Meinungsfreiheit zu behindern. „Wir werden aus allen Ecken des Landes und der Welt unterstützt. Unsere Forderungen sind unstreitig rechtmäßig“, hieß es in einer Erklärung.

Ein Referendum über ein kommunalpolitisches Projekt - das reicht vielen nicht mehr. „Das ist Demokratie als Show. Wir sind gegen seine ganze Politik. Wir bestehen auf unseren Freiheiten, auf unserem eigenen Lebensstil. Ich will auch nicht seine Politik der Alkoholverbote“, sagt ein 23-jähriger, der sich auf seinen Abschluss als Ingenieur vorbereitet.

„Erdogan hat sich willkürlich Leute eingeladen, die nicht für diese Protestbewegung stehen. Nun kommt er mit einem Referendum“, sagt Deniz (18) ein US-Amerikaner mit türkischen Wurzeln. „Menschen sind tot, Tausende sind verletzt worden. Es geht jetzt um viel mehr als den Park“, sagt er. „Mann, ich bin so froh, dass ich hier dabei sein kann.“