Analyse: Randale erreicht Mitte der Gesellschaft

London (dpa) - Meterhoch schlugen die Flammen aus dem Dach des Möbelgeschäfts, immer höher. Stunde um Stunde hielten die Kameras der Fernsehsender von Hubschraubern aus live auf das Gebäude in London und auf die leeren Straßen rundherum.

Irgendwann züngelten erste Flammen am Haus gegenüber.

„Wo war die verdammte Feuerwehr? Und die Polizei? In was für einem Land leben wir eigentlich?“, regt sich ein Brite noch am nächsten Morgen auf. Er hat wie viele bis um zwei Uhr nachts vor dem Fernseher gesessen - und betrachtet, wie sein Land immer tiefer in den Sog der Gewalt gerät. Die Randale kommt unerwartet und schockt die sonst so ausgeglichenen Engländer.

Seit Samstag im Londoner Norden Jugendliche erste Häuser und Autos in Brand steckten, schleicht sich die Angst in die Köpfe der Briten. Waren anfangs fast nur die bekannten Problemviertel Tottenham und Brixton betroffen, die bereits in den 1980er Jahren Gewaltausbrüche von Jugendgangs erlebt hatten, kommen die Einschläge näher in die Mitte der Gesellschaft. In der Nacht zum Dienstag ertönten überall in der Stadt die Martinshörner: Ealing im Westen, Hackney im Osten, Croydon im Süden, Camden im Norden.

In einem Großteil der Millionen-Metropole kam das öffentliche Leben zum Erliegen. Die Polizei räumte selbst in angesagten Ausgehvierteln, wie dem belebten Angel, Restaurants. Nebenstraßen wurden zu Depots für nicht mehr verkehrende Doppeldeckerbusse. Schließlich forderte der amtierende Londoner Polizeichef Tim Godwin die Bevölkerung auf, die Straßen zu verlassen. Eltern sollten sich nach ihren Kindern erkundigen und sie nach Hause holen.

Sarah, eine junge Lehrerin aus Ealing, kam wegen der Warnungen mit ihrem Freund aus der Stadt, als sie an der Station „Ealing Broadway“ auf einen der Brennpunkte der Gewalt traf. Zehn Minuten später zittert sie immer noch. „Da waren vermummte Jugendliche, manche wohl eher noch Kinder. Die haben Brandsätze auf die Polizei geworfen.“ Die Beamten seien hilflos gewesen - und viel zu wenige.

Ein Eindruck, den viele Londoner in den Straßen und an den Bildschirmen teilten. Spezialeinheiten der Polizei, die zuschauen, wie Jugendliche Schaufenster und Autos demolieren. Randalierer, die vor laufenden Fernsehkameras Mülleimer in Brand stecken. „Es sah aus wie in einem Bürgerkrieg“, sagen Bürger am nächsten Tag. In der U-Bahn, der berühmten Tube, gibt es kein anderes Thema. Und es wird so manche Geschichte erzählt: Beispielsweise von Randalierern, die in Parks Fahrradfahrer umrissen und die Räder stahlen.

Auch sonst war London am Dienstag von der wilden Nacht geprägt: Viele Läden in den High Streets blieben geschlossen. Patienten trauten sich nicht, ihre Termine in Praxen einzuhalten. An die Orte der Gewalt kehrte aber auch ein Stück Normalität zurück: Die Mare Street in Hackney, wo am Montagabend der Mob getobt hatte, glich am Dienstagmorgen fast schon wieder einem normalen Arbeitstag. Geschäftsleute in Anzug und Krawatte eilten telefonierend zur Bahn. Nur ein paar verrammelte Fenster erinnerten an die Krawalle.

Und es gab auch schon wieder erste Londoner, die an die Zukunft dachten. Der anonyme Twitterer „Riotcleanup“ zwitscherte Orte und Uhrzeit für Aufräumaktionen in die Welt. „Lass uns an Morgen denken. Der erste Schritt ist, Liebe gegenüber unseren Nachbarschaft zu zeigen, die unsere Hilfe braucht.“ Die meisten Londoner wissen aber wohl, dass Aufräumen die Gewalttäter nicht stoppt. Die Angst bleibt.