Analyse: Russland vertritt eigene Interessen
Moskau/Kiew (dpa) - Wie zu finstersten Zeiten des Kalten Krieges sieht sich die Ukraine im internationalen Streit um die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko an den Pranger gestellt.
Sollten deutsche Minister tatsächlich wie angedroht die Fußball-Europameisterschaft boykottieren, nehme Berlin „den Sport in politische Geiselhaft“, schimpft Außenamtssprecher Oleg Woloschin in Kiew. Gereizt pocht die Ex-Sowjetrepublik mit ihren 45 Millionen Einwohnern auf die 1991 wieder erworbene Unabhängigkeit.
Starker Gegenwind kommt aber auch aus Russland. Als „völlig inakzeptabel“ brandmarkt Kremlchef Dmitri Medwedew den Umgang der Ukraine mit Timoschenko. Bereits den Prozess gegen die Oppositionsführerin hatte Moskau als „Provokation“ bezeichnet. Ein EM-Boykott scheint aber kaum denkbar: Zu schmerzhaft hat Moskau einen solchen Schritt bei eigenen Olympischen Spielen 1980 in Erinnerung.
Viele Ukrainer erfüllt mit Wut, dass ausgerechnet aus Deutschland und Russland der größte Druck kommt - zwei Länder, die in der leidvollen Geschichte der Ukraine oft keine positive Rolle spielten. Deutsche Politiker hatten immer wieder einen „Rachefeldzug“ des Präsidenten Viktor Janukowitsch gegen seine Rivalin kritisiert.
Doch anders als bei der Bundesregierung stehen beim Kreml nicht die Menschenrechte im „Fall Timoschenko“ an vorderer Stelle. Schon allein deshalb nicht, weil das Land - wie Beobachter meinen - immer wieder selbst wegen Verstößen gegen Grundfreiheiten kritisiert wird.
Timoschenko wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie einen angeblich schlechten Liefervertrag für russisches Gas abgeschlossen hatte. Der damalige Regierungschef Wladimir Putin selbst war es, der das umstrittene Abkommen 2009 ausgehandelt hatte - mitten in einem „Gaskrieg“, in dem viele Menschen in der EU wegen ausbleibender Lieferungen im Kalten saßen. Den Angriff auf Timoschenko versteht Moskau daher als Attacke auf sich selbst.
Dahinter stecken auch handfeste Interessen: Russland strebt nach mehr wirtschaftlichem und politischem Einfluss in seinem „Bruderland“. Im Mittelpunkt steht das strategisch wichtige Pipelinesystem, durch das Russland das für die Europäische Union bestimmte Gas pumpt. Noch aus dem Gefängnis heraus hatte Timoschenko, die für viele als Symbol für das nationale Selbstbewusstsein des Landes gilt, solchen Ambitionen Moskaus den Kampf angesagt. „Niemals“ dürfe die Ukraine die Transitleitungen veräußern, appellierte sie aus ihrer Zelle in Charkow.
Auch Präsident Janukowitsch hatte das Anliegen Moskaus stets vom Tisch gewischt. Ob er dem Druck des Kreml auf Dauer gewachsen sein wird, gilt als fraglich. Russland drängt die Ukraine seit Monaten massiv dazu, in eine gemeinsame Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland einzusteigen. Mit dem Bündnis, dem schrittweise weitere Ex-Sowjetrepubliken beitreten sollen, will der gewählte Präsident Putin eine Allianz gegen den Westen schmieden.
Traditionell erzeugen Forderungen aus Moskau in Kiew Reflexe großen Misstrauens und der Ablehnung. Wenn die Ukraine aber „standhaft“ bleibt und Timoschenko nicht freilässt, würde daraus eine Isolierung des Landes folgen - was letzten Endes doch Russland zu Gute käme. Beobachter sehen den eskalierenden Streit an der Ostgrenze der EU daher auch als Kampf um geopolitische Macht. Die Ukraine, Europas zweitgrößter Flächenstaat, gilt als strategisches Schlüsselland.