Analyse: Sanfte Töne statt Hass
Berlin (dpa) - Da steht er nun, der Mann, der nach eigenem Gefühl eben noch auf einer Gefängnispritsche in einem russischen Straflager schlief, oben an der Grenze zu Finnland.
Und jetzt Mauermuseum in Berlin: Blitzlichtgewitter, Geschrei, Kameras überall. Michail Chodorkowski sucht nach Worten, um seine Gefühle zu beschreiben. Nicht leicht, man merkt es ihm an. Hinter Gittern hat der einst reichste Mann Russlands nicht nur sein Ölimperium, sondern auch zehn Jahre seines Lebens verloren.
Dies könnte also der große Tag der Abrechnung mit Wladimir Putin sein, dem Kremlchef, der zu Hause in Russland inzwischen fast allmächtig ist. Viele ahnten Schlimmes, als bekannt wurde, wo Chodorkowskis erste große Pressekonferenz in der Freiheit stattfindet - im Mauermuseum am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie mit all seiner Symbolik, wo Ost und West 1961 kurz vor dem Krieg standen. Doch Worte wie Rache oder Hass kommen ihm nicht über die Lippen.
Stattdessen atmet der 50-Jährige tief durch, richtet sich auf und sagt: „Ich bin erfüllt von tiefer Dankbarkeit.“ Kein Satz, mit dem man hier gerechnet hätte. Dazu lächelt er zu seinen alten Eltern Marina und Boris hinüber, die inmitten der Aufregung still in der ersten Reihe sitzen. Die Krebserkrankung der Mutter war einer der Gründe, warum Putin erlaubte, dass Chodorkowski sein Straflager ein halbes Jahr vor Ende der Haftzeit verlassen durfte.
Nur wenige Stunden ist es her, dass er seine Eltern erstmals in Freiheit wiedersah. Der russische Fernsehsender „Doschd“ zeigte, wie sich Mutter und Sohn mitten im Berliner Vorweihnachtstrubel auf dem Bürgersteig minutenlang umarmen. Immer wieder streichelt er ihr den Rücken. Am Sonntag ist sie es, der Chodorkowski den Blumenstrauß in die Hand drückt, der für ihn vorgesehen war.
Nach dem Straflager wohnt er nun im „Adlon“, dem Luxushotel am Brandenburger Tor, wo er auch früher schon zu Gast war - zuletzt im Herbst 2003, kurz vor seiner Verhaftung. Standardpreis für eine Nacht in seiner Suite namens „Pariser Platz“: 2925 Euro. Nach zehn Jahren Haft und den Prozessen ist er kein Milliardär mehr, aber immer noch schwer reich. Im „Adlon“ trifft er auch seinen ältesten Sohn Pawel wieder, der heute in New York lebt. Seine jetzige Ehefrau Inna und die drei weiteren Kinder sind noch in der Schweiz.
Wie Chodorkowski nun im Mauermuseum vor den Journalisten steht, ist er immer noch ein Mann zweier Welten. Der neue blaue Anzug mit gepunkteter Krawatte strahlt sein wiedererlangtes Leben in Freiheit aus. Doch die lagerkurz geschorenen grauen Haare verraten, wo er sich letzte Woche noch aufgehalten hat. Chodorkowski ist souverän, diplomatisch, hochkonzentriert. Nur Kleinigkeiten verraten, welch dramatische Tage er gerade erlebt hat.
Während ihm bei Fragen zu seinem einstigen Ölkonzern Yukos noch die entferntesten Details einfallen, kommt er bei der Gegenwart leicht ins Schleudern. „Gerade vor 36 Stunden habe ich meine Freiheit wiedergewonnen“, sagt Chodorkowski mehrmals als Erklärung dafür, dass er noch keine Pläne für die Zukunft hat. Das stimmt nicht: In Wahrheit ist es schon bald 60 Stunden her, dass er am Freitag um zwei Uhr nachts mit den Worten geweckt wurde: „Sie fahren jetzt heim.“ Erst auf dem Flug erfuhr er, dass es nach Deutschland geht.
Die weltweite Anteilnahme an seinem Schicksal überrascht ihn dann doch. Bei all dem Dank - über die Wegbegleiter vom längst zerschlagenen Ölkonzern Yukos bis hin zu Kanzlerin Angela Merkel - nennt er einen Namen jedoch ausdrücklich nicht: Putin. Manche haben ihn gleich nach der Freilassung zum neuen Oppositionsführer ernannt. Doch da macht er nicht mit. Auf die Frage, ob er Hass auf die Führung seines Landes empfinde, schüttelt er den Kopf. „Ich werde nicht Politik betreiben. Der Kampf um die Macht ist nicht mein Ding.“
Von Verbitterung ist in diesem Moment nichts zu spüren. Das System sei zwar mit unverhältnismäßig großer Härte gegen ihn vorgegangen. „Weil man sich meiner Familie gegenüber aber human verhielt, sehe ich das alles pragmatisch.“ Dabei geht der Blick wieder in die erste Reihe zu den Eltern.
Nur eine kleine Spitze gegen Putin erlaubt er sich, als er nach Ratschlägen für den Umgang des Westens im Umgang mit dem Kreml-Chef gefragt wird. Antwort: „Es wäre etwas vermessen meinerseits, erfahrenen westlichen Politikern Ratschläge zu erteilen, wie sie sich in Bezug auf einen so schwierigen Menschen wie den Präsidenten meines Landes verhalten sollen.“ Diplomatischer geht es kaum.