Analyse: Schweizer bestrafen Abzocker

Bern (dpa) - In Deutschland gehen „Wutbürger“ auf die Straße. In der Schweiz gehen sie ins Stimmlokal. Ihrer Empörung über Millionen-Boni machten die Eidgenossen an der Urne Luft - beim Referendum gegen Abzockerei.

In den Teppichetagen Schweizer Konzerne wurde Thomas Minder lange belächelt. Als versponnenen „Mundwasser-Fabrikanten“ stellte man den Chef der familieneigenen Kosmetikfirma Trybol in Neuhausen am Rheinfall dar. Dann sprach sich herum, dass die Spezies „Wutbürger“ nicht nur am Stuttgarter Hauptbahnhof, sondern auch zwischen Genfer- und Bodensee gedeiht. Millionen von Franken gab der Unternehmerverband Economiesuisse aus, um Minders Initiative „gegen die Abzockerei“ zum Scheitern zu bringen. Vergeblich: Am Sonntag votierten die Schweizer bei einem Volksentscheid mit einer deutlichen Mehrheit von 67,9 Prozent dafür, Gehaltsexzessen der Bosse einen Riegel vorzuschieben.

Damit muss sich nun ausgerechnet die Schweiz eines der härtesten Aktienrechte der Welt geben. Jahrzehntelang war das Wirtschaftsmodell der Alpenrepublik als besonders liberal und deshalb besonders erfolgreich gepriesen worden. Dass der Staat - zumal mit Mitteln der Strafjustiz - in die Chefetagen hineinregieren könnte, erschien absurd.

Bis die Finanzkrise ausbrach. „Die Schweizer hatten es satt“, erklärte der Genfer Wirtschaftsprofessor Edouard Dommen im Sender BBC. „Die Leute wissen, dass Abzockerei auf ihre Kosten geschieht“, sagte er unter Hinweis auf das Beispiel der Großbank UBS. Diese musste 2008 mit dem Geld der Steuerzahler vor der Pleite gerettet werden. Im vergangenen Jahr überwies die Bank dem Ex-Bundesbanker Axel Weber bei dessen Antritt als UBS-Präsident ein „Begrüßungsgeld“ von vier Millionen Franken (heute 3,27 Mio Euro).

Unter anderem solche Zahlungen müssen nun gesetzlich verboten werden. Und bei schweren Zuwiderhandlungen muss das Gesetz laut Initiativtext sogar Haftstrafen bis zu drei Jahren androhen. Für die Schweizer Wirtschaft kommt das nahezu einem Kulturschock gleich. Immerhin sind in der Alpenrepublik - zum Beispiel mit Joe Jimenez beim Pharmariesen Novartis und Paul Bulcke beim Nahrungsmittelkonzern Nestlé - einige der weltweit am höchsten bezahlten internationalen Manager im Einsatz.

Müssen solche Manager nach dem Erfolg des „Robin Hood der Moderne“, wie Minder vom französische Wirtschaftsmagazin „Les Echo“ genannt wurde, nun auf einen Teil ihrer Millionen-Bezüge verzichten? Werden in der Schweiz ansässige Multis künftig noch in der Lage sein, ihre Chefetagen mit den mutmaßlich weltweit besten Leute zu besetzen oder werden solche Spitzenkräfte nun nicht mehr bezahlbar sein?

Das letzte Wort haben künftig die Aktionäre. Doch die können durchaus spendabel sein, wenn sie es denn für angebracht halten. Das lässt sich nach Ansicht von Experten unter anderem aus der letzten Generalversammlung beim Pharmakonzern Novartis schlussfolgern: Trotz Kritik an einer beabsichtigten Millionen-Abgangsentschädigung für den scheidenden Präsidenten Daniel Vasella stimmten nur gut 20 Prozent der Aktionäre gegen ein neues millionenschweres Vergütungssystem.

Allerdings ist der „Fall Vasella“ wohl auch symptomatisch dafür, dass sich Anteilseigner nicht mehr alles gefallen lassen werden. Allein dafür, dass er sechs Jahre lang nicht zur Konkurrenz geht, wollte sich der 59-Jährige sage und schreibe 72 Millionen Franken (58,5 Mio Euro) überweisen lassen.

Bekannt wurde das ausgerechnet wenige Tage vor der Abstimmung über die „Abzocker-Initiative“. Die allgemeine Empörung war enorm. Als Vasella schließlich seinen Verzicht auf die Abfindung bekanntgab, war alles zu spät. „Man kann nicht auf etwas verzichten, was einem gar nicht zusteht“, erklärte Minder. Damit erntete er Beifall in fast allen politischen Lagern - und nun auch an der Wahlurne.