Analyse: Seehofers Nadelstiche und eine schlingernde Koalition
Berlin (dpa) - Sie wollten ein Signal der Handlungsfähigkeit setzen - und mehr ist am Ende erwartungsgemäß auch nicht herausgekommen. Zwei Stunden lang reden Merkel, Seehofer und Gabriel an diesem Sommertag im Kanzleramt über den Kurs ihrer in der Flüchtlingsfrage heillos schlingernden Koalition.
Am Ende gibt es für die Öffentlichkeit das Zeichen: Es wird weiter verhandelt. Wenigstens das. Anfang Oktober wollen sich die drei Chefs der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD erneut in der Regierungszentrale zusammensetzen - und dann wenn möglich den Sack bei einer ganzen Reihe von Streitthemen zumachen. Die Liste ist lang: Es hakt beispielsweise bei der Erbschaftsteuer, der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern oder der Angleichung der Renten zwischen Ost und West. Auch bei dem für die Sicherheitsdebatte im Zusammenhang mit den Flüchtlingen aus Sicht der Koalition wichtigen Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten sollen Hürden beiseite geschoben werden - doch ob die Ländermehrheit mitzieht, bleibt ungewiss.
Zwar wurde das Gesprächsklima beim Treffen der drei Koalitionsgranden in Teilnehmerkreisen als konstruktiv beschrieben - doch diese Umschreibung wird in Berlin gerne auch benutzt, wenn man nicht deutlich sagen will, dass es ganz schön frostig zuging.
Das wichtigste Thema im Kampf gegen die AfD klammerten die Koalitionären in ihrem zweistündigen Gespräch auch noch aus: die Flüchtlingspolitik. Dabei könnte eine einheitliche Haltung von Schwarz-Rot zumindest in Grundsatzfragen hier auch nach Ansicht vieler in CDU und SPD ein erfolgversprechendes Rezept gegen weitere Erfolge der Rechtspopulisten sein. Schon am kommenden Wochenende drohen auch bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin erneut zweistellige Zustimmungszahlen für die AfD.
Dass der schwärende Flüchtlingsstreit in der Spitzenrunde keine Rolle spielte, dürfte auch daran liegen, dass Merkel und Seehofer nach dem Zerwürfnis der vergangenen Monate immer noch keine Lösung ihres Streits gefunden haben. Ebenfalls zwei Stunden lang hatten sich die beiden vor dem Dreiergipfel unter vier Augen zusammengesetzt. Dabei dürften sie auch über die verheerende Außenwirkung ihrer Auseinandersetzungen auf Anhänger und Wähler der Union gesprochen haben. Die Umfragewerte lassen grüßen. Immerhin, so hieß es später vieldeutig, hätten beide Seiten zu erkennen gegeben, dass sie bereit seien, die verfahrene Situation aufzulösen.
Seehofer macht schon am Samstagmittag, direkt nach dem Ende der Vorstandsklausur seiner Partei im oberpfälzischen Schwarzenfeld klar, dass ihm Gemeinsamkeit mit der großen Schwester CDU zwar wichtig sei - aber nicht um jeden Preis. Gerade die von ihm genauso vehement geforderte wie ebenso eindeutig von Merkel abgelehnte gesetzliche Obergrenze für Flüchtlinge ist für ihn ein Knackpunkt: „Sie wissen, dass das für uns ein ganz wichtiger Punkt ist, auch für die eigene Glaubwürdigkeit“, sagt er vor Journalisten.
Der Ausgang der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern Anfang September hat zwar CDU und CSU besonders durchgeschüttelt, denn erstmals wurde die CDU in einem Land von der AfD überholt. Aber auch Gabriel kann nicht gefallen, dass die AfD mit immer schrilleren Parolen die etablierten Parteien vor sich hertreibt.
Ob Seehofer die Mahnungen für mehr Einigkeit angesichts der AfD-Erfolge in den Wind schlägt, bleibt auch nach dem Spitzengespräch vom Sonntag offen. In der CDU-Führungsetage geben sie sich jedenfalls keinen Illusionen hin. Seehofer gilt hier vielen als unberechenbar.
Doch spätestens bis zu den Parteitagen der CSU Anfang November und der CDU Anfang Dezember müssen sich Seehofer und Merkel zusammenraufen. Sonst droht ein Eklat: Der CSU-Chef hat schon angekündigt, ohne Einigung werde er Merkel nicht als Gast zum Delegiertentreffen einladen.
Und was macht Merkel? Behält sie die Nerven? Schlagzeilen sehen schon eine Kanzlerinnen-Dämmerung. Journalisten räsonieren, ob es gerade die Spät- oder doch schon die Endphase ihrer Kanzlerschaft ist.
An diesem Wochenende lässt sich Merkel nur kurz öffentlich blicken. Beim Bürgerfest von Bundespräsident Joachim Gauck verabschiedet sie sich am Freitagabend noch während des Rundgangs. Ohnehin wirkt sie da so, als sei sie mit den Gedanken ganz woanders. Die Erklärung kommt später: Die Kanzlerin telefonierte mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko über die schwierige Lage in der Ostukraine.
Auch nach den schwierigen Verhandlungen mit den Koalitionären stand wieder Weltpolitik auf Merkels Tagesordnung. Direkt nach Seehofer und Gabriel wurden die Staats- und Regierungschefs Lettlands, Litauens, Maltas, Portugals und Zyperns im Kanzleramt erwartet. Dabei ging es um die EU nach einem Brexit. Und vielleicht auch um Flüchtlinge.