Analyse: Sonderstatus für die Ostukraine?
Kiew/Donezk (dpa) - Auf das Reizwort Unabhängigkeit für die Ostukraine verzichten die prorussischen Separatisten nach sechsmonatigen Kämpfen plötzlich.
Dass die Führungen der nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk bei ihren neuen Gesprächen mit der internationalen Ukraine-Kontaktgruppe in Minsk jetzt auf einmal bescheiden nur noch einen Sonderstatus verlangen, überrascht auch die prowestliche Führung in Kiew. Doch Zugeständnisse an die Separatisten sind wohl weiter nicht zu erwarten.
In der Ukraine ist der Wahlkampf bereits voll entbrannt - und jedes Zugehen auf den Staatsfeind vor der vorgezogenen Abstimmung über das neue Parlament am 26. Oktober käme einem Landesverrat gleich, heißt es in Kiewer Kommentaren zum Vorstoß. Immerhin aber will die Kontaktgruppe aus Vertretern Kiews, Moskaus und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bis zur neuen Zusammenkunft an diesem Freitag (5. September) die Vorschläge sichten.
Die von Moskau unterstützten Aufständischen verlangen etwa ein Ende der Militäroperation, freie Kommunalwahlen und einen offiziellen Status für die russische Sprache sowie das Recht, Staatsanwälte und Richter selbst zu bestimmen. Der Forderungskatalog, heißt es in Kommentaren, sei so weitreichend, das es am Ende doch wieder um Unabhängigkeitsrechte gehe. Die Separatisten verlangen zudem eigene bewaffnete Kräfte. Und sie wollen wirtschaftlich mit der von Russland dominierten Zollunion zusammenarbeiten, die die Ukraine ablehnt.
Eine breite Autonomie innerhalb einer unabhängigen Ukraine also? Zuvor hatte Kremlchef Wladimir Putin im Staatsfernsehen Gespräche über den staatlichen Status des umkämpften Südostens verlangt - und über „Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft“.
Experten in Kiew sehen in den Vorschlägen die Handschrift Putins, eine Falle. Jedes Zugeständnis an die prorussischen Kräfte würde Präsident Petro Poroschenko als Verrat angelastet, mit dem „er sein Grab schaufelt“, meint der Politologe Dmitri Ponarmatschuk. Die in Donezk und Lugansk im Mai abgehaltenen Volksabstimmungen über die Unabhängigkeit „werden niemals anerkannt“, sagt er.
Beobachter in Moskau allerdings sehen in dem Vorstoß ein Kompromissangebot für Poroschenko. Angesichts der kritischen Situation der ukrainischen Armee und mit Blick auf die zugunsten der Separatisten veränderte Lage an der Front habe der Staatschef wenigstens die Chance, sein Gesicht zu wahren, meint der Akademiker Alexej Arbatow in der Moskauer Zeitung „Wedomosti“.
Medien berichten über einen Vormarsch der Separatisten auf die südukrainische Stadt Mariupol am Asowschen Meer und einen möglichen Kurs auf die Hafenmetropole Odessa am Schwarzen Meer. Operation Noworossija - Neurussland - heißt die Offensive. Aus Sicht von Experten könnte sich Russland auf diese Weise womöglich eine Landverbindung zu der im März annektierten Halbinsel Krim sichern. Das vom ukrainischen Festland versorgte Gebiet kämpft bisweilen damit, dass Kiews Behörden die Wasser- oder Stromversorgung kappen.
Die Lage im Kriegsgebiet bleibt insgesamt schwierig. Die Aufständischen stehen vor ähnlichen Problemen wie die ukrainische Armee. Eroberte Gebiete müssen gesichert werden. Ständiger Nachschub ist nötig. Die Militärführung in Kiew arbeitet nach eigenen Angaben an Strategien für einen Partisanenkrieg. Doch musste auch Sicherheitsratssprecher Andrej Lyssenko eingestehen, dass Partisanen in den Steppengebieten des Ostens und Südens kaum Chancen hätten. Offiziell spricht Kiew weiter von 15 000 „Terroristen und russischen Soldaten“. Das sei zumindest zu wenig, um das ganze Land zu erobern.