Analyse: Szenen wie aus einem Kriegsgebiet

New York (dpa) - Dunkle Wolken lagern über den mit Trümmern übersäten Straßen, überall liegen Scherben, Krankenwagen mühen sich an den verkohlten und fensterlosen Häuserfassaden vorbei. Doch West ist kein Kriegsgebiet, liegt nicht in Syrien oder Afghanistan, sondern mitten in Texas.

In dem Städtchen, 100 Kilometer südlich von Dallas, ist am Mittwochabend (Ortszeit) eine Düngemittelfabrik explodiert. Die Polizei spricht nach Stunden der Ungewissheit von fünf bis 15 Toten - doch es könnten Dutzende sein.

Am Anfang wirkt es eher wie ein Fall höchstens für das Lokalfernsehen: In West brennt das Düngemittelwerk! Hoch lodern die Flammen, und Umstehende halten das Spektakel mit der Handy-Kamera fest. Bis 19.53 Uhr Ortszeit.

Mit einem gewaltigen Knall, der noch fast 80 Kilometer entfernt zu hören ist, und einem 30 Meter hohen Feuerball explodiert das Werk und verwandelt den Umkreis in eine Ruinenlandschaft. Auf den Videos der Schaulustigen wechselt das berauschte „Wow, was für ein Feuer!“ in blankes Entsetzen. Und immer wieder die gleichen Rufe: „Oh mein Gott! Oh mein Gott!“

Es trifft vor allem diejenigen, die helfen wollen. Männer und Frauen, die vor der Katastrophe nicht weg-, sondern zu ihr hinlaufen, um andere Menschen zu retten: Feuerwehrleute und Sanitäter.

Auch einen halben Tag nach der Katastrophe ist das Ausmaß nicht abzusehen. Doch es gibt keinen Zweifel, dass vor allem Helfer unter den Opfern sind. Dutzende bezahlen ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit mit ihrer Gesundheit - oder gar dem Leben.

„Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir derzeit von fünf bis 15 Toten ausgehen“, sagt Polizeisprecher Patrick Swanton. Da ist das Unglück schon neun Stunden her. Zuvor schon hat Rettungsdienstchef George Smith von „mindestens 60“ Toten gesprochen, doch die Situation ist auch am nächsten Morgen noch verworren. Keine Stadt kann auf solch eine Katastrophe vorbereitet sein. Die Ortschaft West mit weniger als 3000 Einwohnern war es ganz bestimmt nicht.

Doch obwohl die Polizei von einem Unfall ausgeht, kommen den Menschen immer wieder Bilder von Krieg und Terror in den Sinn. „Es sah aus wie eine Atombombe“, sagt Wests Bürgermeister Tommy Muska. „Eine große Pilzwolke“ über der kleinen Stadt. „Es war wie im Irak“, sagt Polizist D. L. Wilson. „Oder wie beim Murrah-Gebäude in Oklahoma City.“ In der Stadt, nur wenige Autostunden nördlich, hatte 1995 ein Terrorist 168 Menschen ermordet, darunter viele Kinder - mit einer Bombe aus Düngemittel.

„Besonders in der einen Straße sieht es aus wie im Kriegsgebiet“, sagt Rettungsdienstchef Smith. „Die Häuser sind eingestürzt, und es könnten noch Menschen drin sein. Die sind entweder schwer verletzt oder tot.“ Sein Notdienst ist lahmgelegt: Viele der Helfer sind selbst Opfer. Eine für die toten Feuerwehrmänner eingerichtete Facebook-Seite mit dem Titel „The Last Alarm“, etwa „Der letzte Einsatz“, wächst minütlich um Dutzende Unterstützer.

Mehr als 160 Menschen sind verletzt. Mehr als 1000 Menschen werden in Sicherheit gebracht. Darunter sind auch rund 130 Bewohner eines Altenheims, die ihr Zuhause, gleich bei der Fabrik, räumen müssen.

Die Rettungsarbeiten sind nicht nur durch die Angst vor giftigen Gasen erschwert, die Helfer fürchten vor allem auch weitere Explosionen. Das Feuer sollte zwar gelöscht werden, nicht aber um jeden Preis, betont Staatspolizist Wilson: „Wir kämpfen hier um Menschenleben, nicht um Güter.“