Analyse: Unglücks-Städte bewältigen ihre Trauer

Seyne-les-Alpes (dpa) - Ein Meer von Blumen erinnert in Le Vernet an die 150 Todesopfer. Das kleine Bergdorf in den französischen Alpen liegt der Absturzstelle des Airbus 320 am nächsten.

Foto: dpa

Im Nachbarort in Seyne-les-Alpes wurde für die Betroffenen auf die Schnelle eine Trauerkapelle in einem Sportzentrum eingerichtet. Nicht weit davon entfernt drücken Menschen in einer Dorfkirche ihr Beileid in einem Kondolenzbuch aus. Doch diese Orte des Gedenkens sind nur provisorischer Art - die jahrelange schmerzvolle Aufarbeitung beginnt erst danach. Von Winnenden bis Erfurt versuchen die Betroffenen auf ganz unterschiedliche Weise mit ihren Erinnerungen fertig zu werden:

RAMSTEIN: Der Flugschau-Unfall war ein frühes bildgewaltiges Unglück in der Geschichte der Bundesrepublik: Augenzeugen schnitten auf Videokameras mit, wie auf der US-Airbase in der Pfalz drei Jets zusammenkrachten. In einem riesigen Feuerball raste eine Maschine in die Menge. 1000 Menschen wurden verletzt, 70 starben. „Viele Betroffene sammelten später alles, um die Wahrheit und Realität begreifbar zu machen. Bei manchen funktionierte diese Art der Bewältigungsstrategie“, sagt Sybille Jatzko, Initiatorin der Katastrophennachsorge des Flugunglücks im August 1988. Bei ihren Selbsthilfe-Gruppen kamen nicht nur Hinterbliebene zusammen, sondern auch Polizisten, Feuerwehrmänner, Verletzte. „Ihnen allen half, sich in einer Gruppe auszutauschen. Es bildete sich eine Schicksalsgemeinschaft“, sagt sie. Noch heute kommen monatlich 40 Eltern aus Süddeutschland in Kaiserslautern zusammen, die der gemeinsame Schmerz eint.

WINNENDEN: „Die Stadt muss noch immer mit dem Image der Amokstadt fertig werden“, erklärt Gisela Mayer vom Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden. Sechs Jahre sind seit dem 11. März 2009 vergangen. An jenem Tag hatte der damals 17-jährige Schüler Tim K. in zwei Kleinstädten bei Stuttgart erst 15 Menschen erschossen und sich dann selbst getötet. Lange habe sich die Stadt davon abgewandt, erläutert Mayer. Nach „einigem Ringen“ versuche Winnenden aber, die Vergangenheit als Teil der eigenen Identität zu begreifen. In den Schulräumen, wo der 17-Jährige auf seine Mitschüler schoss, gebe es jetzt eine Bibliothek und einen Gedenkraum - für jedermann zugänglich. „Keine blinden Flecke, keine Tabuzonen“, erklärt Mayer. Auch am sechsten Jahrestag läuten die Kirchenglocken, werden die Namen der Schüler verlesen. Sie sind in einem acht Tonnen schweren Stahldenkmal eingraviert, dem „Gebrochenen Ring“ in Sichtweite der Albertville-Realschule.

DUISBURG: Nach der Massenpanik von 2010 nahmen vor allem die Duisburger und die Hinterbliebenen das Gedenken an die Opfer in die Hand. Rund 26 000 Euro kamen bei dem „Spendentrauermarsch“ einer Bürgerinitiative zusammen. Mit diesem Geld wurde ein Jahr nach dem Unglück ein Mahnmal neben dem Gelände des Festivals errichtet. An die 21 Todesopfer erinnert seither eine Stahlskulptur mit 21 zusammenfallenden Stäben - ein Symbol für die tödliche Enge im Tunnel. Eine weitere Stütze für die Hinterbliebenen ist der Verein „Loveparade Selbsthilfe“. In einem Beratungszentrum können die Angehörigen über ihre Trauer ins Gespräch kommen. Die Stadt Duisburg beauftragte zudem für die Trauerbewältigung einen Ombudsmann - einen evangelischen Pfarrer - an den sich Betroffene wenden können.

ERFURT: Konkrete Informationen, Transparenz der Behörden und echte Empathie habe den Angehörigen nach Amokläufen besonders geholfen, ihr Schicksal zu verarbeiten, sagt die Autorin Ines Geipel, die sich in ihrem Buch „Der Amok-Komplex“ auch mit der Erfurter Tragödie auseinandergesetzt hat. Das Schulmassaker im Jahr 2002 in Thüringen mit 16 Opfern war das erste dieser Dimension in Deutschland. Viele Betroffene hätten sich im Anschluss für eine Traumatherapie entschieden - in kleineren Gruppen oder einzeln -, andere blieben für sich oder machten ihre Trauer öffentlich, sagt die ehemalige koordinierende Gesamtprojektleiterin der psychologischen Nachsorge, Alina Wilms. „Manche Menschen haben versucht, das Erlebte selbst zu bewältigen“, sagt Wilms weiter. Doch einige hätten gemerkt, dass sie „vor ihren Erinnerungen nicht davonlaufen können“.

ÜBERLINGEN: Als ein DHL-Flugzeug mit einem russischen Tupolew-Jet am 1. Juli 2002 über Überlingen zusammenstieß, war der damalige Oberbürgermeister Volkmar Weber gerade aus dem Rückweg aus dem Urlaub. Alle 71 Menschen kamen ums Leben - man brauche Zeit, um ein solches Unglück zu realisieren. „Bei mir kam das erst, als drei Tage später die Angehörigen kamen“, sagt Weber. Deren Ankunft sei besonders schmerzlich gewesen. „Sie zu begleiten, in ihrem Schmerz und ihrer Trauer. Diese Bilder werden jetzt wieder lebendig.“ In solchen Momenten - gerade, wenn es Sprachbarrieren gebe - könnten Gesten helfen, sagt Weber. Ein Händedruck, eine Umarmung. „Das sind Dinge, die man leisten kann.“ Die ganze Stadt habe nach dem Unglück zusammengestanden und Übermenschliches geleistet. Erst mit der Zeit könne man Abstand zu so einer Katastrophe gewinnen. „Mit den Jahren nimmt die unmittelbare Beteiligung ab.“