Analyse: Wird der VW-Skandal auch zum Klima-Problem?

Wolfsburg/Washington (dpa) - Für das einstige Aushängeschild der deutschen Autoindustrie kommt es immer dicker: Die schwerste Krise in der Geschichte des VW-Konzerns droht von einem Fälschungs- und Gesundheitsskandal zu einer Klima-Affäre anzuwachsen.

Nach Wochen interner und juristischer Ermittlungen, Befragungen der Revisoren und Razzien von Staatsanwälten platzte die neuerliche Hiobsbotschaft am Dienstagabend wie eine Bombe in die jüngste Runde der Ermittlungen der US-Umweltbehörde EPA hinein. „Bei internen Untersuchungen ist festgestellt worden, dass es bei der Bestimmung des CO2-Wertes für die Typ-Zulassung von Fahrzeugen zu nicht erklärbaren Werten gekommen ist“, berichtete Volkswagen.

Manch ein Leser wird den Satz ungläubig mehr als nur einmal gelesen haben. CO2-Wert? Bisher drehte sich die Affäre ausschließlich um NOx, also um ein Umweltgift, das die Atemwege des Menschen und die Natur belastet - und zwar nur um NOx aus Dieselmotoren. Nun wird auf einmal klar: Auch beim Kohlendioxid (CO2), dem Haupt-Klimakiller und Verursacher des Treibhauseffekts, räumt VW „Unregelmäßigkeiten“ ein.

Gewiss sind Vorsicht und genaue Unterscheidungen wichtig. Laut Volkswagen geht es bei den CO2-Abgasen um die Genehmigung neuer Fahrzeugtypen - nicht um die bewusste Manipulation von Emissionen schon verkaufter Modelle. Und man beeilt sich zu betonen, es handele sich um einen „bislang nicht vollständig aufgeklärten Sachverhalt“.

Die Entwicklung ist gleichwohl dramatisch, legt sie doch nahe, dass die interne, vom neuen Konzernchef Matthias Müller versprochene Aufklärung nicht nur kaum vorankommt - sondern dass das Abgas-Debakel noch in ganz andere, ungeahnte Dimensionen vorstößt.

In den USA, wo der NOx-Betrug seinen Ausgang nahm, sind besonders die Stickoxid-Grenzwerte streng. Die EU-Staaten dagegen haben jahrelang vor allem um neue, schärfere Vorschriften zum CO2-Ausstoß gerungen. 2021 darf der durchschnittliche Flottenwert je Hersteller nicht mehr als 95 Gramm pro gefahrenen Kilometer betragen. Die Verhandlungen zwischen der Autolobby, den Mitgliedstaaten, dem Europarlament und der EU-Kommission waren hart. Und nun muss ausgerechnet der sich seiner Öko-Technologien („Blue Motion“) rühmende VW-Konzern auch hier massive Probleme eingestehen.

„Nachdem festgestellt worden ist, dass es bei der Entwicklung von Dieselmotoren zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, hat der Vorstand der Volkswagen AG angekündigt, umfassend zu untersuchen, ob es Anhaltspunkte für weitere Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung von Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns gibt“ - so die Erklärung. Hier ist allgemein von „Fahrzeugen“ die Rede - müssen also auch Besitzer von Benzinern die wahre Umweltbilanz ihres Wagens infrage stellen? Aktuell nennt VW „ganz überwiegend Dieselmotoren“. Hinzu kommt, dass niedriger angegebene CO2-Werte auch den Spritverbrauch verfälschen.

Finanziell schneidet die Ausweitung der Affäre VW schon jetzt massiv ins Fleisch. Der Konzern spricht von rund 800 000 weiteren betroffenen Fahrzeugen. Zusätzlich zu den wegen des NOx-Skandals bereits in der Bilanz zurückgestellten 6,7 Milliarden Euro werden die „wirtschaftlichen Risiken“ in einer ersten Schätzung auf 2 Milliarden Euro taxiert. Wie viel kommt noch obendrauf - angesichts drohender Schadenersatz-Ansprüche, Strafzahlungen und Rechtsstreitigkeiten? Bisher soll die Nachfrage unter dem Diesel-Skandal nicht gelitten haben, doch im schlimmsten Fall könnte es um tausende VW-Jobs gehen.

Am Dienstagmorgen erschien die Szene am Wolfsburger Stammwerk noch passend. Nebel erschwerte die Sicht auf die VW-Zentrale. Davor, auf dem Mittellandkanal, lag ein Schiff namens „Tsunami“. Nach den neuen US-Vorwürfen, auch bei größeren Dieselantrieben habe VW manipuliert, steckt VW angesichts der CO2-Frage nun noch tiefer in der Bredouille.

Schon die erweiterte Diesel-Anschuldigung zielte gleich mehrfach auf Konstanten in der Verteidigungsstrategie. Und sie bedrohte die zentrale Währung im Konzern: Vertrauen in die Aufklärung, mit der die Vorgänge um Millionen manipulierte Dieselautos angegangen werden sollen. „Falls sich die Vorwürfe bewahrheiten, kommt Volkswagen in erhebliche Erklärungsnot“, sagt Autoexperte Stefan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach.

Denn die EPA, die im September Stufe eins des „Dieselgate“-Skandals lostrat, hatte nachgelegt. Neben den Vierzylinder-Motoren mit 2,0 Litern Hubraum älteren Datums soll der VW-Konzern auch bei Sechszylindern mit 3,0 Litern eine illegale Software nutzen. Dabei geht es um aktuellere Motoren - und vor allem: Es geht neuerdings auch um Dickschiff-Modelle der VW-Renditeperlen Porsche und Audi.

Während die EPA mitteilte, „VW hat einmal mehr seine Verpflichtungen missachtet, sich an die Gesetze zu halten, welche saubere Luft für alle Amerikaner sichern“, entgegnete VW, es sei keine Software vorhanden, „um die Abgaswerte in unzulässiger Weise zu verändern“.

Mitte September, nach Bekanntwerden der Manipulations-Vorwürfe, räumte VW diese kurz danach ein. „Diesmal kam dagegen ein Dementi - und zwar sehr schnell“, gibt der Autoexperte Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler zu bedenken. Allerdings hatte die EPA vor den ersten Betrugsvorwürfen im September auch über Monate hinweg mit VW über das Thema gesprochen, wie Nord-LB-Analyst Frank Schwope sagt.

Der neue Vorwurf der EPA ist auch für Müller brisant. Er war bis zum Rücktritt seines Vorgängers Martin Winterkorn Chef bei Porsche und trug als oberster Lenker der Sportwagenschmiede die Verantwortung für den US-Markt. Sollte der NOx-Skandal nun wirklich auch zu einem CO2-Skandal werden, wird man ihn noch stärker als bisher beim Wort nehmen. „Für uns zählt einzig und allein die Wahrheit“, betonte er. Doch wie lange wird es noch dauern, die ganze Wahrheit zu finden?