Analyse: Wulff geht - die Republik ist erleichtert
Berlin (dpa) - Kaum 20 Monate war Christian Wulff im Amt, und die letzten zwei davon waren für den Bundespräsidenten höchst unerfreulich. Aus der Kreditaffäre wurde eine Medienaffäre, wurde eine Lobbyaffäre.
Am Ende war es nur noch die Affäre Wulff.
Ein Bundespräsident für nur gut eineinhalb Jahre, unvorstellbar eigentlich, ohne Beispiel in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch Wulffs Vorgänger Horst Köhler trat vorzeitig zurück, aber immerhin hatte er fünf Jahre im Schloss Bellevue verbracht. Zwei dramatische Rücktritte in Folge - als Staatskrise will das aber keiner mehr sehen, im Gegenteil: Selbst in der schwarz-gelben Koalition empfinden es viele fast als Befreiung, dass die Affäre Wulff nun doch endlich vorüber ist.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat lange gebraucht, bis sie den Rücktritt „ihres“ Präsidenten als unausweichlich erkannt hat. Erst die Ankündigung der Staatsanwaltschaft, die Aufhebung der Immunität zu fordern, brachte das Fass zum überlaufen. Wochenlang hatte Merkel gezögert, „volles Vertrauen“ bekundet, sogar „vollstes Vertrauen“. Genützt hat es alles nicht.
Was als kleine Affäre um einen 500 000-Euro-Kredit begann, wollte einfach nicht zu Ende gehen. Aber es war nicht dieses Darlehen, das ihm zum Verhängnis wurde, auch nicht der Druck, den er versuchte, auf die „Bild“-Zeitung und andere auszuüben. Eher schon an seinem spitzfindigen Umgang mit der Wahrheit, der ihn immer wieder zu neuen Eingeständnissen, taktischen Finessen und zerknirschten Erklärungen zwang.
Ob das höchste Amt im Staat Schaden genommen hat, mag man bezweifeln. Aber der zehnte Bundespräsident geht schwer beschädigt. Im Mittelalter wäre er wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet, sagte er noch voller Galgenhumor auf der „Zeit“-Matinee am 22. Januar. Damals wollte er noch Vertrauen zurückgewinnen.
Mit Abstand betrachtet wird man sich an die Affäre vielleicht einmal so erinnern: Christian Wulff stolperte über seine zu engen Beziehungen zu Unternehmern, über den allzu freundschaftlichen Umgang mit reichen Geschäftsleuten in seiner Zeit als Ministerpräsident von Niedersachsen (2003 bis 2010), über den Eindruck von Gefälligkeiten. Sein Sprecher und Vertrauter Olaf Glaeseker, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen Bestechlichkeit ermittelt, steht nur als Beispiel für das, was die Opposition in Niedersachsen „System Wulff“ genannt hat.
Jetzt will die Staatsanwaltschaft auch gegen Wulff ermitteln. Viele Fragen sind in den vergangenen Wochen gestellt worden. Der 500 000-Euro-Kredit der Unternehmergattin Edith Geerkens - oder war faktisch doch Egon Geerkens der Geldgeber? Was war mit den Urlauben bei den Geerkens und anderen vermögenden Freunden? Der Droh-Anruf auf die Mailbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, am Ende dann die Staatshilfe für den Party-Manager Manfred Schmidt und der Sylt-Urlaub mit dem Film-Freund David Groenewold.
Eine knallige Staatsaffäre sieht anders aus. Auslöser für den Rücktritt war am Ende die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Hannover, beim Bundestag die Aufhebung seiner Immunität zu beantragen, um gegen Wulff ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Doch ist das der einzige Grund?
Die „Bild“-Zeitung, die eine wichtige Rolle bei seinem Sturz spielte, schrieb schon ganz am Anfang ihrer Berichterstattung, dass Politiker selten über eine Affäre an sich stolperten, sondern über den Umgang mit ihr. Hat das Krisenmanagement Wulffs versagt? Der Vorwurf lässt sich nicht von der Hand weisen - aber am Ende sind immer alle schlauer.
Als die „Bild“ am Dienstag, dem 13. Dezember, mit dem Privatkredit für Wulffs Einfamilienhaus in Großburgwedel und sein bisheriges Schweigen darüber an die Öffentlichkeit ging, weilte der Bundespräsident auf Reisen in den Golfstaaten. Sein Noch-Sprecher Glaeseker ließ dennoch rasch erklären, Wulff habe sich nichts vorzuwerfen. Diese Verteidigungslinie hielt zwei Tage. Dann ließ sich Wulff persönlich vernehmen: „Ich bedauere das.“
Zugleich verwies das Präsidialamt für alle künftigen Anfragen an die Anwaltssozietät Redeker Sellner Dahs, die am Montag, dem 19.12. Akteineinsicht gewährte. Wenige Tage später räumte Glaeseker seinen Schreibtisch im Präsidialamt, erstes untrügliches Zeichen dafür, dass die Dinge nicht gut liefen. Und dann wurden immer mehr Fragen laut, auch nach der Rolle der BW Bank, die den günstigen Kredit von Frau Geerkens mit einem noch günstigeren Darlehen ablöste. Am 4. Januar musste Wulff dann bei ARD und ZDF direkt bei der Bevölkerung um Verständnis und Entschuldigung bitten, ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik.
Vorher gab Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zweimal massiv Rückendeckung für den Präsidenten, der schließlich ihr Projekt war. Sie hatte ihn im Juni 2010 als Kandidaten durchgesetzt, gegen Ursula von der Leyen aus der CDU, und gegen den Parteilosen Joachim Gauck, den SPD und Grüne aufgestellt hatten. Merkel musste wissen, wen sie in das Amt drückte.
Wenn dann doch der Rückhalt für Wulff auch in der schwarz-gelben Regierung schwand, hat das auch damit zu tun, dass bald wieder Wahlen zu bestehen sind. Allerdings warf man dem Mann aus Osnabrück auch vor, sein Thema als Bundespräsident noch nicht gefunden zu haben. Das war nicht ganz fair. Zumindest der eine, immer wieder zitierte Satz wird aus der Amtszeit des zehnten Bundespräsidenten in Erinnerung bleiben: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, sagte er zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010.
Wulff wollte das Thema Integration zum Leitmotiv seiner Präsidentschaft machen. Als „Integrations-Präsident“ würde er gerne wahrgenommen werden, sagt er auch, und meinte damit den Zusammenhalt der Gesellschaft, auch das Modell der Patchwork-Familie, das er mit seiner zweiten Frau Bettina und seinen Kindern repräsentierte. „Ihr müsst Euch daran gewöhnen, dass Ihr einen jungen Bundespräsidenten habt“, kokettierte der 52-Jährige gerne mit der Tatsache, dass er und seine Frau Bettina (38) mit Abstand das jüngste Präsidenten-Ehepaar waren, das die Bundesrepublik je hatte. Die Kinder Linus (3) und Leander (8) waren wichtiger Teil des Lebens auch als Präsident.
Besonders bedauern wird es Wulff, dass er nun am kommenden Donnerstag nicht mehr in Berlin die große Rede zum Gedenken an die Opfer der Neonazi-Mordserie halten kann. Denn dieses Thema war ihm besonders wichtig, hier hatte er die Initiative ergriffen, nachdem die Kanzlerin und Bundestagspräsident Norbert Lammert gezögert hatten
Ansonsten aber hielt sich Wulff zurück, auch in der immer dramatischeren Euro-Krise wurde er kaum wahrgenommen. Die ihm persönlich besonders wichtige Rede vor Wirtschaftsnobelpreisträgern in Lindau verpuffte. Lediglich Sätze, die zu seinem persönlichen Umgang mit Geld und Krediten zu passen schienen, wurden zuletzt zitiert. Er möchte nicht „wie ein Schiedsrichter“ über das Feld rennen und immer wieder Gelbe und Rote Karten zücken, sagte Wulff einmal, um klar zu machen, dass die Tagespolitik nicht seine Aufgabe war.
Wulff war vor der Affäre beliebt, das ergab im Sommer 2011 eine Umfrage im Auftrag der „Bild am Sonntag“. 80 Prozent empfanden ihn als persönlich sympathisch. Und auch wenn eine Mehrheit noch im Januar 2012 seinen Umgang mit Freunden, deren Geld und Urlaubsangeboten guthieß, Vertrauen hatte er da schon massiv verspielt. Am Ende hielt ihn nur noch eine Minderheit für glaubwürdig.
Dabei war schon sein Anfang als Staatsoberhaupt holprig und der erste kleine Hinweis gegeben auf das, was kommen würde. Einen lange zuvor gebuchten Urlaub in der Villa des umstrittenen Unternehmers Carsten Maschmeyer auf Mallorca musste er öffentlich als Fehler verbuchen. Dann kam die Debatte über sein Vorpreschen im Fall Thilo Sarrazin („Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet“).
Etwas unglücklich auch die Äußerung nach der Loveparade-Katastrophe von Duisburg, die als Aufforderung zum Rücktritt des Oberbürgermeisters Adolf Sauerland verstanden wurde. Seitdem war Wulff penibel darauf bedacht, sich bei aktuellen politischen Fragen nicht zu sehr aus dem Fenster zu lehnen. Er fürchtete wohl auch, manchens könne als Kritik an der Bundeskanzlerin ausgelegt werden.
Gestolpert ist er über sein Verhalten als Ministerpräsident in Niedersachsen, über das System des Gekungels und der Gefälligkeiten. Ohne die Hartnäckigkeit der Opposition in Hannover wäre dies aber nicht Dauerthema geblieben. Am Ende wollten ihn die meisten Politiker und Bürger einfach nicht mehr als Bundespräsidenten sehen.