Staatenbund in Schockstarre Ceta am Abgrund? Belgische Region lähmt EU-Handelspolitik
Brüssel (dpa) - Auf den Schrecken folgten hektische Krisengespräche: Am Freitag hatte Kanadas Handelsministerin Chrystia Freeland noch den Tränen nahe verkündet, mit der EU sei derzeit kein internationales Abkommen zu schließen.
Der jahrelang mühsam ausgehandelte Ceta-Freihandelspakt zwischen der EU und Kanada stand scheinbar vor dem Aus. Am Samstagmorgen klang sie nach einem Treffen mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) etwas gefasster: Kanada sei nach wie vor zur Unterzeichnung bereit, der Ball liege nun bei den Europäern. Doch Europa hat ein großes Problem.
Der Streit um Ceta ist symptomatisch. Vehement vertreten immer wieder einzelne EU-Staaten ihre Partikularinteressen und bedrohen damit teilweise die Handlungsfähigkeit des seit 2004 auf 28 Mitglieder angewachsenen Staatenbundes. In der Flüchtlingskrise etwa geht die von den Staaten mehrheitlich beschlossene Verteilung von 120 000 Flüchtlingen seit etlichen Monaten nur schleppend voran, weil sich vor allem die Slowakei und Ungarn mit allen Mitteln dagegen wehren. Bei Ceta hält nun sogar die belgische Region Wallonie ganz Europa in Atem.
„Wir haben noch ein paar kleine Probleme“, sagte der wallonische Regierungschef Paul Magnette nun ungerührt. Unter anderem geht es dabei um belgische Sozial- und Umweltstandards und die Landwirtschaft. Es brauche noch etwas Zeit, sagt Magnette. Eigentlich soll das Abkommen am kommenden Donnerstag feierlich mit dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau in Brüssel unterzeichnet werden.
Dass jetzt der überwiegende Teil Europas und Kanada auf den südbelgischen Provinzfürsten warten, hat teilweise innerbelgische Gründe. Die Föderalregierung in Brüssel von Premierminister Charles Michel braucht zur Zustimmung grünes Licht der Regionalregierung. Die in der Wallonie regierenden Sozialisten (PS) haben aber „kein Interesse daran, der Föderalregierung das Leben zu erleichtern, ganz im Gegenteil“, sagt der Brüsseler Politikwissenschaftler Dave Sinardet.
Der Föderalstaat Belgien basiert teils auf fragilen und mühsam ausgehandelten Interessensausgleichen zwischen dem niederländischsprachigen Landesteil Flandern im Norden und der französischsprachigen Wallonie im Süden des Landes. An der Michel-Regierung sind Liberale, Konservative und die flämischen Nationalisten beteiligt - nicht aber die sozialistische Partei.
Zwischen beiden Landesteilen gibt es zudem große Wirtschaftsgefälle. Im Vergleich zum relativ wohlhabenden Norden leidet die teils ländlich geprägte Wallonie unter Desindustrialisierung und höherer Arbeitslosigkeit. Globalisierung wird dort in der öffentlichen Diskussion deutlich kritischer gesehen.
Doch die EU-Staaten haben sich den Ärger teils selbst eingebrockt. Einem vorangegangenen juristischen Gutachten aus der EU-Kommission zufolge gab es keine Notwendigkeit, Ceta als Vertrag einzustufen, dem nicht nur das Europaparlament, sondern auch sämtliche nationalen Parlamente zustimmen müssen.
Deutschland und etliche andere Staaten hatten dafür im Sommer jedoch Druck auf EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ausgeübt. Juncker wundert sich zudem über die teils flammende Kritik an dem Abkommen mit dem engen Partner Kanada.
Doch die Diskussionen um den nun in den Fokus gerückten Handelspakt Ceta berühren auch das grundsätzliche Problem, dass viele Menschen in Europa die EU als entrücktes Elitenkonstrukt wahrnehmen. „Europäische Kommission und Rat müssen sich jetzt die Frage gefallen lassen, ob sie weiter hinter dem Rücken der Öffentlichkeit Handelsverträge abschließen wollen“, sagte etwa die Vorsitzende der linken Fraktion im Europapaarlament, Gabi Zimmer.
Ob und mit welchen Anreizen die Wallonie noch zur Zustimmung zu Ceta bewegt werden kann, war zunächst offen. Am entspanntesten zeigte sich noch der sozialdemokratische österreichische Bundeskanzler Christian Kern: „Es sind noch einige Tage Zeit bis zum 27. Oktober. Ich gehe davon aus, dass bis dahin eine Lösung gefunden sein wird.“