Die Getriebene - Merkels verzögerte Krisenreaktion

Berlin (dpa) - Es ist einfach nicht ihre Art. Angela Merkel zieht sich nicht schnell die Gummistiefel an, um zu verzweifelten Menschen in Hochwassergebieten zu eilen.

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Vor laufenden Kameras natürlich, denn inkognito können Regierende nirgendwo mehr hingehen. Die Kanzlerin zögert oft, zu Brennpunkten zu fahren, obwohl ihr eine postwendende Reaktion politisch mehr nutzen als schaden - und langes Schweigen mehr schaden als nutzen dürfte. So auch jetzt nach den rechten Krawallen gegen Flüchtlinge im sächsischen Heidenau.

Unter „#merkelsagwas“ und „#merkelkommvorbei“ wurde sie in den sozialen Netzwerken massenhaft zu klarer Positionierung gegen Hass und Hetze von Rechtsextremen aufgefordert. Grüne und Linke drängten die Kanzlerin, das Recht auf Asyl in Deutschland zu verteidigen. So wirkt Merkel auch diesmal als Getriebene. Denn die CDU-Chefin macht sich zwar dann doch immer zum Ort des traurigen Geschehens auf - aber während sie noch grübelt, ob ihr Besuch nach Polittourismus aussehen und viel Unruhe schaffen könnte, waren andere Politiker längst da.

Etwa SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er lässt nicht auf sich warten. Gleich am Montag sagt er in Heidenau in die Mikrofone Sätze wie: „Bei uns Zuhause würde man sagen, das ist Pack, was sich hier rumgetrieben hat.“ Merkel kommt im Kanzleramt nicht einmal das Wort „Schreihälse“ über die Lippen, obwohl ihr Regierungssprecher Steffen Seibert zuvor eine Erklärung in ihrem Namen verlesen hatte, in der die Übeltäter von Heidenau als solche gegeißelt werden.

Der Verlauf des Tages bietet guten Anschauungsunterricht für Merkels kontrollierte Art. Bis Montagmorgen hatte sie zu Heidenau geschwiegen. Am Vormittag geht Seibert dann für sie überraschend heftig in die Offensive: „Es ist abstoßend, wie Rechtsextreme und Neonazis versuchen, rund um eine Flüchtlingseinrichtung ihre dumpfe Hassbotschaft zu verbreiten. Und es ist beschämend, wie Bürger, sogar Familien mit Kindern, durch ihr Mitlaufen diesen Spuk unterstützen.“

Merkel wiederholt die Erklärung am Nachmittag persönlich. Verzichtet aber auf jegliche Reizwörter: „(...) Es ist genauso beschämend, wie Bürgerinnen und Bürger, sogar Familien mit Kindern, durch ihr Mitlaufen diese Dinge noch einmal unterstützen.“ Diese Dinge. Das Gegröle von Rechtsextremisten und Neonazis. Ihre menschenverachtende Steinewerferei gegen Busse mit Flüchtlingen, die Schreckliches erlebt haben und auf Frieden in Deutschland hoffen. „Dumpfe Hassbotschaften“, sagt Merkel. Aber weder „Spuk“ noch „Schreihälse“. Undenkbar, dass sie wie ihr Vizekanzler von „Pack“ sprechen würde.

Es würde auch nicht zu ihr passen. Sie polarisiert nicht. Und in heiklen Situationen formuliert sie noch vorsichtiger. In Heidenau, wo ihr Besuch an diesem Mittwoch auf Schritt und Tritt live übertragen wird, kommt es auf jedes Wort an. Wie wird sie als Mensch Flüchtlinge trösten, als Kanzlerin Rechtsextreme in ihre Schranken weisen und als CDU-Chefin ihrem Parteifreund und Bürgermeister Jürgen Opitz Mut machen, sich weiter aufrecht gegen den rechten Mob zu stellen?

Merkels Stärke ist nicht das Wort. Die Stärken der Physikerin sind Ausdauer, Hartnäckigkeit, Kompromissfähigkeit. Sie würde gern mit Ergebnissen nach Heidenau fahren. Aber Bund, Länder und Gemeinden haben noch keine Linie gefunden, wie sie die vielen Flüchtlinge gut unterbringen und versorgen werden. Das nächste Krisentreffen in Berlin ist erst im September - und das wurde schon vorgezogen, weil die Probleme den Kommunen über den Kopf wachsen.

Seibert hatte gesagt: „Deutschland lässt nicht zu, dass Flüchtlinge, über deren schwierige Lebenssituation jeder durchaus einmal nachdenken sollte, von hasserfüllten Parolen empfangen werden oder von alkoholisierten Schreihälsen bedroht werden.“ Aber genau das ist geschehen. Flüchtlinge, die mitunter aus Todesangst ihre Heimat verlassen haben, wurden in Heidenau in neue Angst und Schrecken versetzt. Nächtelang. 30 Polizisten wurden verletzt. Nun stellen sich auch viele Fragen, warum in Sachsen, in dem vom CDU-Politiker Stanislaw Tillich regiertem Bundesland so viel rechte Hetze möglich ist, ohne dass die Polizei wirksamer dagegen vorgeht.

Am Dienstag spricht Merkel im Duisburger Problemviertel Marxloh mit Bürgern über die vielen Flüchtlinge, die nun in Deutschland Schutz suchen. Deren Unterbringung beschreibt sie als eines der größten Probleme. Alle Containerfirmen seien „total ausgelastet“. So wirbt Merkel für ein ganz undeutsches Vorgehen: „Deutsches Planungsrecht ist nicht das schnellste. Sondern wir müssen jetzt ein paar Bestimmungen mal außer Kraft setzen.“ Es geht darum, sich von hohen Standards zu verabschieden, um schnell „eine ordentliche Unterkunft“ zu beschaffen - „damit es jeder warm hat im Winter“, sagt Merkel. Sie weiß: „Wir können jetzt nicht im Normalmodus weitermachen.“