Analyse Einigung ohne echte Einigkeit - Familiennachzug schwarz-rot

Berlin (dpa) - Union und SPD haben sich zwar auf eine Lösung zum Familiennachzug verständigt. Wirklich einig scheinen sie dabei aber nicht. Die Deutung der Vereinbarung könnte unterschiedlicher kaum ausfallen: Die Union bejubelt eine weitere Begrenzung der Zuwanderung und die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus.

Foto: dpa

Die SPD dagegen spricht von einer „deutlich weitergehenden Härtefallregelung“ - und davon, dass die Betroffenen bald endlich wieder Angehörige nachholen können. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Für Flüchtlingsfamilien jedenfalls bringt das Modell nur bedingt Erleichterung. SPD-Chef Martin Schulz muss das Ganze nun der Parteibasis schmackhaft machen.

Der Familiennachzug sorgt seit langem für großen Ärger zwischen Union und SPD. Für viele Genossen ist es zu einer moralischen Grundsatzfrage geworden, für die Union geht es dagegen um die Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Nun haben beide Seiten Folgendes vereinbart: Vorerst bleibt der Familiennachzug zu Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutzstatus ausgesetzt. Ab 1. August dürfen die Betroffenen - im Amtsdeutsch heißen sie „subsidiär Schutzberechtigte“ - wieder Angehörige nach Deutschland nachholen. Allerdings nur in begrenztem Umfang: 1000 Menschen pro Monat, also maximal 12 000 pro Jahr. Wie genau die ausgewählt werden sollen, ist unklar.

Hinzu kommt eine Härtefallregelung, also eine Klausel für besondere Ausnahmefälle: Wenn zum Beispiel ein Kind alleine nach Deutschland geflohen und schwer krank ist, hat es mitunter doch Chancen, die Eltern nachholen zu dürfen. Eine solche Klausel gibt es schon im Gesetz, in Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. Allerdings ist sie mit hohen Hürden verbunden. Im gesamten vergangenen Jahr profitierten davon weniger als 100 Angehörige von subsidiär Geschützten.

Eine weitere Klausel soll greifen: Paragraf 23 Aufenthaltsgesetz. Dort ist geregelt, dass die Bundesländer aus humanitären Gründen zusätzlich Flüchtlinge aufnehmen können. Auf dieser Basis gab es in der Vergangenheit Extra-Kontingente zur Aufnahme von Syrern. Doch auch die waren nach Ansicht von Asylexperten nur bedingt erfolgreich. Denn Angehörige oder andere Bürgen mussten sich verpflichten, den kompletten Lebensunterhalt für jene zu zahlen, die so ins Land kamen.

Das Echo von NGOs und Flüchtlingsaktivisten fällt denn auch bitter aus. Linke, Grüne, Flüchtlingsgruppen und Sozialverbände nennen die Einigung „inhuman“, „scheinheilig“, einen „traurigen Deal“ auf dem Rücken von Flüchtlingskindern. Der Geschäftsführer der Organisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, spricht von einer „Pseudo-Lösung“. Die vermeintliche Härtefallregelung werde weiter ins Leere laufen. „Das ist weit entfernt von dem, was Schulz versprochen hat.“

Der SPD-Chef hatte nur mit größter Mühe beim Parteitag ein hauchdünnes Ja zu Koalitionsverhandlungen durchsetzen können - geknüpft an das Versprechen, inhaltlich noch etwas rauszuschlagen bei der Union, unter anderem eine „weitergehende“ Härtefallregelung.

Nun muss er der SPD-Basis erklären, warum eine Härtefallklausel, die ohnehin schon existiert, aber bislang nur wenigen Menschen geholfen hat, ein großer Verhandlungserfolg ist. Die Parteispitze versucht es mit der Argumentation, die „1000 plus“-Regelung sei doch besser als nichts; ohne die SPD wäre der Familiennachzug für die betroffenen Gruppe ganz ausgesetzt geblieben; die Union habe keine Härtefälle mehr zulassen wollen; nun gebe es eine „deutlich weitergehende Härtefallregelung - wie vom Parteitag gefordert“.

Doch das überzeugt nicht jeden. Der Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD, Aziz Bozkurt, schimpft, der „Kompromiss“ entspreche keineswegs den Forderungen des Parteitages. Man solle ihn also nicht als Erfolg verkaufen. Auch die Jusos, die den internen Widerstand gegen eine weitere große Koalition anführen, kritisieren die Einigung und klagen, die SPD organisiere der Union eine Mehrheit für die verlängerte Aussetzung des Familiennachzugs. Die will der Bundestag nämlich schon diese Woche beschließen. Im Gegenzug bekomme die SPD aber nur „ungedeckte Schecks“ von der Union, meint Juso-Chef Kevin Kühnert. Denn was am Ende von den Härtefall-Ideen übrig bleibe, sei unklar.

Sollte die Parteibasis das ähnlich kritisch sehen, hat Schulz ein Problem. Denn ohne die Zustimmung der Genossen beim Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag wird es keine GroKo geben.

Die Union, insbesondere die CSU, kann mit dem Kompromiss dagegen gut leben - und feiert ihn als Erfolg. Für die CSU ist die Asylpolitik ein zentraler Punkt in den Verhandlungen. Eine Erklärung für die Hartnäckigkeit ist auch das historisch schlechte CSU-Ergebnis bei der Bundestagswahl - und die Sorge vor einer weiteren Niederlage bei der bayerischen Landtagswahl im Herbst. Deshalb beharrt die CSU gerade in der Flüchtlingspolitik so massiv auf ihren Positionen: aus Furcht, ein weiteres Einlenken könnte sie wieder massiv Wählerstimmen kosten.

Dass zu den 1000 Menschen pro Monat nun noch einmal ein paar Dutzend pro Jahr dazukommen könnten, kann die CSU verschmerzen. Auch wenn CSU-Spitzenpolitiker zuletzt noch eisern argumentierten, die Härtefälle, die im Sondierungspapier nicht eigens erwähnt werden, müssten in den 1000 enthalten sein. Nun kommen sie eben obendrauf. Die CSU versichert aber, es gebe keine „weitergehende“ Härtefallregelung, wie der SPD-Parteitag es verlangt hatte.

SPD-Vize Ralf Stegner dagegen kündigt schon mal an, er wolle in den Koalitionsgesprächen weiter über Details der Neuregelung verhandeln. Hinzu kommen andere Themen mit großem Streitpotenzial. Die Hindernisse auf dem Weg zu einem schwarz-roten Koalitionsvertrag sind damit also längst nicht beseitigt.