Analyse Endspiel in Caracas
Caracas (dpa) - Nicolás Maduro bezeichnet sich als „Hijo de Chávez“, als Sohn von Hugo Chávez. Nachdem der Begründer des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ 2013 gestorben war, übernahm der frühere Busfahrer das Steuer in Venezuela.
Er versucht mit einer täglichen Salsa-Show, Tänzchen im roten Hemd und markigen Reden in die Fußstapfen von Chávez zu treten - aber bis in die Reihen des Militärs ist er umstritten - nun geht er volles Risiko im Kampf um das Chávez-Erbe.
„Socialismo o muerte“, die Kampfformel aus Kuba bekommt in Caracas bedrückende Realität, es kommt zum Endspiel um die Frage Diktatur oder Demokratie. Das Parlament ist entmachtet. Nicht wie früher in Südamerika per Eingreifen des Militärs, sondern über die Judikative wird die Bastion des Widerstands gegen Maduro und die Sozialistische Einheitspartei (PSUV) ausgeschaltet. Zuvor war bereits die Immunität der Abgeordneten aufgehoben worden, was den Weg für Verhaftungswellen ebnen kann. Von Washington bis Buenos Aires, von Berlin bis Brüssel, es hagelt scharfe Protestnoten gegen das Ende der Gewaltenteilung.
Präsident des nun im Fokus stehenden Obersten Gerichtshofs ist Maikel Moreno, 1987 wurde er laut „El País“ angeklagt, als Mitglied der politischen Polizei eine Frau ermordet zu haben, dafür saß er zwei Jahre im Gefängnis. Später machte Moreno im „Chavismo“ Karriere - demonstrativ zeigte sich Maduro mit ihm nach dem Urteil, mit dem dem Parlament alle Kompetenzen entzogen worden waren. Schon zuvor hatte sich Maduro den Haushaltsentwurf 2017 einfach vom Gericht genehmigen lassen, dabei gilt das Budgetrecht als Königsrecht eines Parlaments.
Auslöser des Urteils war wohl ein Votum der Parlamentsmehrheit, die Sanktionen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegen die Regierung unterstützte. Für die PSUV kam das einem Vaterlandsverrat gleich. OAS-Chef Luis Almagro sieht einen „Selbstputsch des Staates“.
Anders als Chávez, der es auch dank sprudelnder Öleinnahmen schaffte, die Mehrheit des Volkes demokratisch hinter sich zu bringen, würde Maduro bei freien Wahlen wohl eine verheerende Niederlage kassieren.
Die Begründung für das Urteil, mit dem parlamentarische Befugnisse auf das Gericht übertragen werden: Respektlosigkeit und Missachtung der anderen Staatsgewalten. Dazu gehört nach Meinung der Opposition schon viel Chuzpe, den Spieß so umzudrehen, die Gewaltenteilung werde schließlich von der anderen Seite, von Maduro, mit Füßen getreten.
„Das heißt nichts anderes als Staatsstreich und Diktatur“, betont Parlamentspräsident Julio Borges. „Das ist eine Entscheidung gegen das Volk in Venezuela.“ Damit bekomme Maduro alle Macht, „er kann jetzt die Gesetze machen, auf die er Lust hat.“ Die nächsten Tage sollten Millionen auf die Straße gehen: die Lage kann explodieren.
Venezuela 2017: Das wunderschöne Land mit den größten Ölreserven der Welt, am Rande des Ruins. Früher kamen hunderttausende Touristen zur Isla Margerita - passé. Die höchste Inflation der Welt, Caracas eine der gefährlichsten Städte, die Kindersterblichkeit enorm gestiegen. Mangels Devisen kommen kaum Lebensmittel und Medikamente ins Land.
Einige Krankenhäuser haben noch fünf Prozent der notwendigen Medizin. Angehörige versuchen händeringend auf dem Schwarzmarkt, Sauerstoff und Infusionen zu kaufen. Komitees der Sozialisten (CLAP) verteilen Medizin und Essen vor allem in ihren Hochburgen. Unter den Armen, die eine neue Wertschätzung erfahren haben durch Sozialprogramme und den Bau hunderttausender Wohnungen, ist der Zuspruch weiterhin hoch.
Caracas, das ist auch eine Parallelwelt: Die Schönen und Reichen wandern aus. Oder sie ziehen sich in ihre abgeschotteten Viertel zurück, bestellen per WhatsApp völlig überteuerte Lebensmittel, die vom Schwarzmarkthändler ihres Vertrauens in die Tiefgarage geliefert werden, während Normalbürger den Tag in Warteschlangen verbringen.
Die Endziffer auf dem Ausweis entscheidet, an welchem Tag man einkaufen darf in staatlichen Supermärkten. Aber die Regale sind meist leer - daher bleibt nur der Gang zum teureren Schwarzmarkt. Aber viele können sich das nicht leisten, der Mindestlohn beträgt wegen der Geldentwertung umgerechnet keine 15 Euro im Monat derzeit.
Rückblick, Caracas, 6. Dezember 2015: Die Menschen sitzen gebannt vor den Fernsehern, viele rechnen mit Wahlbetrug, die Parlamentswahl ist zu einem Plebiszit über den Sozialismus geworden. Um 0.30 Uhr tritt endlich die Chefin der von den Sozialisten kontrollierten nationalen Wahlbehörde vor die Kameras und verkündet einen haushohen Sieg des Parteienbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ (MUD). Doch mit dem Tag begann die „Gegenrevolution“, vor allem über die Justiz.
Eigentlich sollte dem Wahlsieg ein Referendum zur Abwahl Maduros folgen - Gerichte stoppten auch das - wegen angeblicher Mängel bei Unterschriftensammlungen. Wie wenig unabhängig die Juztiz zu sein scheint, manifestiert sich am Zeitpunkt von Urteilen. Als sich im Februar US-Präsident Donald Trump mit Lilian Tintori, der Ehefrau des zu fast 14 Jahren Haft verurteilten Oppositionsführer Leopoldo López traf und die Freilassung forderte, bestätigte Richter Moreno tags darauf die Strafe. López wird Anstachelung zu regierungskritischen Protesten vorgeworfen, bei denen 2014 über 40 Menschen starben.
Maduro macht einen „ökonomischen Krieg“ und den niedrigen Ölpreis für die Misere verantwortlich. Die Probleme weltweit sind so groß, dass er trotz aller Kritik des Auslands und des Abzugs von Botschaftern keine Intervention fürchten muss. Die große Frage aber ist: Wie reagieren die Bürger, werden sie sich in ihr Schicksal ergeben?