Erdogan sieht den Westen auf der „Seite der Putschisten“
Istanbul (dpa) - Die Kluft zwischen der Türkei und der EU vertieft sich. Hintergrund ist die anhaltende Kritik am harten Vorgehen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschversuch. „Der Westen hat sich auf die Seite der Putschisten gestellt“, sagte Erdogan in Ankara.
Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), in der Türkei sei Rechtsstaatlichkeit „zurzeit nicht gegeben“.
Amnesty International kritisierte, zweieinhalb Wochen nach dem Putschversuch sei der Verbleib vieler Festgenommener noch immer unklar. Das gelte besonders für die mutmaßlichen Rädelsführer, sagte der Türkei-Experte der Organisation, Andrew Gardner, der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. Viele Festgenommene seien aus Kapazitätsgründen in Sporthallen oder Reitställen unter teils menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht.
Angesichts von Drohungen Ankaras, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen, forderte Griechenland eine Alternativlösung. „Wir sind sehr beunruhigt. Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B“, sagte der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas der „Bild“-Zeitung (Mittwoch). Die EU-Kommission wies die Forderung umgehend zurück.
Kofler hatte im Zusammenhang mit der aus ihrer Sicht mangelnden Rechtsstaatlichkeit in der Türkei eine Neubewertung des Flüchtlingsabkommens verlangt. Die Bundesregierung ging auf Distanz zu ihrer Beauftragten. „Wir stehen in vollem Umfang hinter diesem Abkommen“, sagte Außenamtssprecher Martin Schäfer in Berlin.
Trotz der teilweisen Suspendierung der Europäischen Menschenrechtskonvention nach dem Putschversuch will die Türkei eng mit dem Europarat zusammenarbeiten. Die Türkei werde den Rat weiter „regelmäßig informieren“, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu nach einem Treffen mit dem Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, in Ankara. Jagland sagte, er sei erfreut, dass die Türkei bereit sei, Hilfe von Experten des Europarats anzunehmen.
Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Parlament, Mustafa Yeneroglu, wies die Kritik sowohl von Amnesty als auch von Kofler zurück. Koflers Aussagen zur Rechtsstaatlichkeit entsprächen „nicht den Tatsachen in der Türkei“, sagte der deutsch-türkische Abgeordnete im Deutschlandfunk. Yeneroglu sagte, bei den Suspendierungen von Staatsbediensteten, die verdächtigt würden, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben, werde die Verhältnismäßigkeit geprüft.
Menschenrechtler zeigten sich irritiert über eine Aussage von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci, der die Putschisten am Montag als „Kanalratten“ bezeichnet hatte. Yeneroglu sagte, er kenne eine solche Aussage nicht. „Es wäre ein Skandal, wenn eine solche Äußerung zusammenhanglos gefallen wäre.“
Zeybekci hatte in Denizli gesagt: „Wir werden ihnen so eine Strafe geben, dass sie sagen: „Würden wir nur krepieren und davonkommen.“ Solange sie leben, werden wir ihnen nie wieder Tageslicht zeigen. Solange sie leben, werden sie nie wieder Stimmen von Menschen hören. Sie werden nur ihre eigenen Stimmen hören. In 1,5 bis 2 Quadratmeter großen Räumen werden sie wie Kanalratten krepieren.“
Erdogan lastet den Putschversuch vom 15. Juli dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen an und hat angekündigt, den Staat von dessen Anhängern zu „säubern“. Nach Angaben von Ministerpräsident Binali Yildirim wurden seitdem 58 611 Staatsbedienstete suspendiert, weitere 3499 wurden dauerhaft entlassen. Yildirim zufolge handelt es sich bei den meisten Entlassenen um Militärs. Zusätzlich wurde mehr als 20 000 Lehrern an Privatschulen die Lizenz entzogen.
Nach dem Putschversuch verhängte Erdogan den Ausnahmezustand, der am 21. Juli in Kraft trat und 90 Tage gilt. Per Dekret verfügte er, dass Verdächtige 30 Tage statt wie zuvor vier Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden können. Nach offiziellen Angaben von Ende vergangener Woche wurden bislang fast 19 000 Menschen festgenommen, gegen mehr als 10 000 von ihnen wurden Haftbefehle erlassen.
Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin zog Parallelen zwischen der „Entfernung“ von Gülen-Anhängern aus staatlichen Institutionen in der Türkei und der deutschen Wiedervereinigung. „Zusätzlich zu Beamten und Soldaten wurden vom deutschen Staat viele Akademiker, Lehrer, Diplomaten und Journalisten unter dem Vorwurf von Verbindungen zum alten Regime in Ostdeutschland gefeuert“, schrieb Kalin in der regierungsnahen Zeitung „Daily Sabah“ (Mittwoch).
Die Bundeswehr verstärkte derweil die Sicherheitsvorkehrungen für die auf dem Stützpunkt Incirlik in der Südtürkei stationierten deutschen Soldaten. Der Putschversuch in dem Nato-Land war von Teilen des Militärs ausgeführt worden. Die anschließenden Maßnahmen der Regierung zielten insbesondere auf die Streitkräfte.
Zurzeit seien für die Zusammenarbeit in Incirlik wichtige türkische Stellen teilweise nicht besetzt, sagte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam. Die Basis werde „kurzfristig und präventiv“ nur noch mit Flugzeugen angeflogen, die mit Systemen zur Verteidigung gegen Raketenangriffe ausgerüstet seien. Eine akute Gefährdung für die rund 240 deutschen Soldaten bestehe nicht.