EU-Flüchtlingspolitik nach neuem Drama in der Kritik
Brüssel/Berlin (dpa) - Nach der Katastrophe im Mittelmeer wächst die Kritik an der Flüchtlingspolitik in der EU. Aus dem EU-Parlament kamen Forderungen nach einem Politikwechsel.
Politiker und Organisationen der Flüchtlingshilfe forderten am Sonntag einen Kurswechsel oder eine Fortsetzung des ausgelaufenen Seenotrettungsprogramms „Mare Nostrum“. Der französische Staatspräsident François Hollande forderte mehr Überwachungsboote im Rahmen der EU-Mission „Triton“.
In einem Interview mit dem Pay-TV-Sender Canal Plus bezeichnete Hollande das Schiffsunglück als eine der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer in den vergangenen Jahren. Die EU-Innen- und Außenminister müssten sich so schnell wie möglich treffen. „Triton“ ist eine EU-Mission zur Seenotrettung von Flüchtlingen und zum Grenzschutz auf dem Mittelmeer. In dem Interview verglich Hollande die Menschenschmuggler mit Terroristen.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“: „Ich glaube, es sind zwei Dinge, die wir tun müssen. Das Erste: Wir müssen versuchen, mehr Stabilität nach Libyen zu bringen. Das heißt, zu versuchen, doch noch eine Regierung der nationalen Einheit zustande zu kriegen in Libyen. Nur stabile Verhältnisse dort werden auch verhindern, dass Libyen weiterhin von den Schleppern und Schlepperorganisationen benutzt wird. Und wir müssen den Schlepperorganisationen das Handwerk legen. Das wird nur gehen in internationaler Kooperation.“
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat die Bekämpfung von Schlepperbanden als zentralen Punkt bezeichnet. „Verbrecherische Schlepperbanden verdienen viel Geld mit der Reise bis und über das Mittelmeer. Organisierte Banden überfüllen untüchtige Boote und überlassen die Menschen ihrem Schicksal.“ Der Innenminister forderte eine europäische Antwort: „Es geht um die Rettung von Menschenleben, die Bekämpfung organisierter Schlepperbanden und die Stabilisierung der Region. Einfache Antworten gibt es nicht.“
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte: „Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Europa an seinen Außengrenzen nicht Menschlichkeit, sondern allzu oft den Tod bringt. Alle europäischen Polizei- und Grenzbehörden müssen mit aller verfügbaren Kraft den Kampf gegen kriminelle Schleuserbanden aufnehmen, die mit dem Elend von Menschen Geschäfte machen. Wir brauchen einen internationalen Einsatz gegen Schlepperbanden. Und wir müssen den Ländern - zur Zeit vor allem Libyen - helfen, stabile Strukturen aufzubauen und mit dem Flüchtlingsstrom fertig zu werden.“
Europa könne und müsse mehr tun, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. „Wie oft wollen wir noch unsere Bestürzung zum Ausdruck bringen und danach zur Tagesordnung übergehen?“ Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik müsse geändert werden. Ohne eine solidarische europäische Politik, die Menschen legale Wege nach Europa ermögliche und Hoffnung anstelle von Verzweiflung setze, sei die nächste Tragödie nur eine Frage der Zeit.
EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte: „Wir müssen weiter an den Wurzeln der Einwanderung ansetzen - vor allem an der Instabilität einer Region, die größer und größer wird, vom Irak bis nach Libyen.“ Die EU-Staaten müssten mit Handlungen zeigen, dass sie die europäischen Grundwerte teilten.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprach von einer „menschengemachten Tragödie, die vermieden hätte werden können“. „Für die europäischen Regierungen ist es an der Zeit, ihre Verantwortung wahrzunehmen und schnell einen zwischen den Staaten abgestimmten humanitären Einsatz zur Rettung von Menschenleben auf See einzurichten“, forderte die Organisation.
Die Flüchtlingsinitiative „Watch The Med“ forderte: „Das Sterben muss ein Ende haben: Wir fordern eine sofort einzurichtende direkte Fährverbindung für Flüchtlinge aus Tripolis und anderen Orten Nordafrikas nach Europa. Wir fordern sichere und legale Wege, um Zufluchtsorte zu erreichen, ohne sich in tödliche Gefahren begeben zu müssen.“
Frank Schwabe, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, forderte: „Das Schwarze-Peter-Spiel muss jetzt schnell beendet werden. Wer jetzt nicht handelt, macht sich unterlassener Hilfeleistung schuldig. Wer die Zahlen kennt, weiß, dass eine Nachfolgemission von „Mare Nostrum“ gerade kein Anreiz für weitere Flüchtlinge wäre, sondern ein Gebot der Menschlichkeit ist. Der Bundesinnenminister ist gefordert, diese Rettungsmission umgehend europäisch durchzusetzen.“
Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), forderte schnelles Handeln: „Die EU-Kommission und die EU-Staaten müssen nach dieser neuen Tragödie im Mittelmeer jetzt handeln“, schrieb Weber auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Die Vize-Chefin des Menschenrechtsausschusses im Europaparlament, Barbara Lochbihler (Grüne) schrieb auf Twitter: „Tatenlosigkeit der EU und der Bundesregierung schlichtweg nicht mehr hinnehmbar. Es reicht.“ Lochbihler fordert eine Seenotrettung und mehr legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge.
Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, sprach von einer „Katastrophe mit Ansage“. „Es war ein tödlicher Fehler, im letzten Herbst das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ einzustellen.“