Feature: Blutbad am Grafinger Bahnhof

Grafing (dpa) - An diesem Tag ist in dem kleinen Städtchen Grafing bei München alles anders. Der weitläufige Platz rund um den Bahnhof ist abgesperrt, der Zugverkehr in die Landeshauptstadt nach München läuft nur stockend.

Feature: Blutbad am Grafinger Bahnhof
Foto: dpa

Am Bahnsteig steht noch der Zug, vor einer offenen S-Bahn-Tür ist eine große Blutlache zu sehen, mittendrin rot verschmierte Papiertücher. Hinter rot-weißen Flatterbändern untersuchen Spurensicherer in weißen Kapuzenanzügen akribisch den Tatort. Nach den dramatischen Minuten am frühen Morgen steht die kleine Stadt im Südosten Münchens unter Schock.

Ohne Vorwarnung sticht der Täter zu. Kurz vor 5.00 Uhr steigt der Mann in die erste S-Bahn ein, die an diesem Morgen von dem wichtigen regionalen Drehkreuz nach München fährt. Unvermittelt greift er einen 56 Jahre alten Fahrgast mit einem Messer an, läuft raus, verletzt am Bahnsteig einen weiteren Mann und rennt über den Bahnhofsvorplatz.

Vor einer Taverne gegenüber sticht er zwei Radfahrer mit der zehn Zentimeter langen Klinge nieder. Der 56-Jährige aus Wasserburg am Inn stirbt später. Die drei anderen Opfer im Alter von 43, 55 und 58 Jahren kommen schwer verletzt ins Krankenhaus.

Sofort verschiebt die Stadt eine für den Abend geplante Stadtratssitzung. „Die haben wir jetzt abgesagt, weil ich das einfach zu profan finde, hier Tagesordnungspunkte abzuhandeln, während hier ein Mensch gestorben ist und die anderen schwer verletzt sind“, sagt Bürgermeisterin Angelika Obermayr (Grüne).

Gemeinsam mit Landrat Robert Niedergesäß (CSU) legt sie Blumensträuße mit Trauerflor an den Stufen zum Bahnhof ab. „Wir sind ein idyllischer Ort, das Sozialleben funktioniert total gut“, sagt Obermayr. „Dass hier quasi einer Amok läuft und mit dem Messer um sich sticht, das kennen wir hier nicht.“

Vor dem Bahnhof bietet sich derweil ein schockierendes Bild. Den Weg des Täters können die Ermittler leicht feststellen - sie müssen nur den blutigen Abdrücken folgen, die er mit seinen nackten Füßen hinterlassen hat. Jeden Fußtritt haben sie mit weißer Kreide umrandet, die Spuren führen quer über den Bahnhofsplatz, zu einer Taverne.

Im Eingang zum Biergarten ein schwarzes Lastenfahrrad, daneben ein Stapel Zeitungen, die nicht mehr ausgeliefert werden konnten. Das Rad gehört dem dritten Opfer. Ein weiteres Fahrrad liegt mitten auf der Straße, vor einer kleinen Verkehrsinsel. Die Radler waren auf den Tumult am Bahnsteig aufmerksam geworden und sahen den 27-Jährigen davonlaufen. „Sie wollten ihn aufhalten und wurden sofort von ihm attackiert“, sagt Polizeisprecher Hans-Peter Kammerer.

Warum der Mann am frühen Dienstagmorgen auf die Menschen am Grafinger Bahnhof einstach, bleibt auch bei einer Pressekonferenz am Nachmittag in München weitgehend offen. Ein Bezug des aus Hessen stammenden Mannes zu Bayern oder Grafing ist für die Ermittler zunächst nicht erkennbar. Nach Angaben von LKA-Vizepräsidentin Petra Sandles war Grafing ein „zufällig gewählter Tatort“. Auch haben die Ermittler keine Hinweise darauf, dass der Mann Bezüge zu islamistischen, salafistischen Gruppierungen oder Personen hatte.

Sicher scheint erst einmal nur eines: Der Mann ist psychisch auffällig. Noch in der Nacht zu Montag soll er in Hessen in psychiatrischer Behandlung gewesen sein. Auch von Drogen ist die Rede. Am Montag nimmt der Mann dann den Zug nach München, fährt weiter nach Grafing und sticht wahllos um sich.

Erklärungen für seine unfassbare Tat kann er kaum geben. Die Aussagen des Mannes seien „verwirrend“ gewesen, sagt Oberstaatsanwalt Ken Heidenreich. Barfuß sei er gewesen, weil er eine starke Hitze an seinen Füßen verspürt habe, gibt der 27-Jährige etwa zu Protokoll. Die Staatsanwaltschaft äußert Zweifel an der Schuldfähigkeit des Schreiners, der seit zwei Jahren arbeitslos ist.

Noch gibt es viele Fragen rund um das schreckliche Geschehen am Grafinger Bahnhof, am Dienstag überwiegt vor allem die Bestürzung. „Wenn man in der Früh um fünf hier zum Bahnhof geht, rechnet man nicht mit so etwas“, sagt Landrat Niedergesäß. Doch er versucht zu beruhigen: „Das hätte überall passieren können, davor ist man nirgends geschützt.“ Am Mittwoch werden am Bahnhof in Grafing wieder viele Pendler frühmorgens ihren Weg nach München antreten, doch diesmal sicherlich mit mulmigen Gefühlen.