Fragen und Antworten: Warnung vor Schengen-Kollaps

Berlin (dpa) - An vielen Orten in Europa wollen Grenzer wieder Pässe sehen. Die Folge: Genervte Berufspendler und alarmierte Spediteure. Freie Fahrt ohne Grenzkontrollen ist in Europa ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Was passiert, wenn sich immer mehr EU-Länder dauerhaft gegen Flüchtlinge abschotten und ihre Grenzen schließen? Die Warnungen vor den Konsequenzen nehmen zu - bis hin zum Ende für den Euro.

Warum ist „Schengen“ so wichtig für Europa?

Der europäische Binnenmarkt ist freilich älter als das Schengener Abkommen, das seit 1985 Reisefreiheit zwischen den Mitgliedstaaten garantiert. Und nicht alle EU-Staaten gehören „Schengen“ an. Lange Zeit funktionierte der Warenaustausch auch ohne Euro. „Schengen“ ist aber eine Grundlage des Binnenmarktes, der freien Handel, die freie Wahl des Wohnortes, des Arbeitsplatzes und Zollfreiheit garantiert. Mit dem Euro wurde das Zusammenwachsen der europäischen Wirtschaft weiter gestärkt.

Droht dem Euro bei dauerhaften Grenzkontrollen das Aus?

Scheitert Schengen, wird es nach fast 15 Jahren Gemeinschaftswährung kein einfaches Zurück zum „alten“ Binnenmarkt wie zu Vor-Euro-Zeiten geben, heißt es. Ob EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Kanzlerin Angela Merkel, Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) oder Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem: Sie alle stellen einen Zusammenhang zwischen der freizügigen Bewegung in der EU ohne Grenzkontrollen und dem Funktionieren des Währungsraums her. Juncker sagt es auf seine Art: „Wer Schengen killt, wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe getragen haben.“ Weniger Binnenmarkt bedeute mehr Arbeitslosigkeit - und ohne Schengen, ohne Freizügigkeit, ohne Reisefreiheit mache der Euro keinen Sinn. Der Chef des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner, formuliert ebenso drastisch: „Europa hängt sich an den Nagel.“

Ist das eine echte Gefahr, oder wird nur politisch Druck gemacht?

Beides trifft zu. Das Schengen-Abkommen erlaubt es, dass zeitweise Personenkontrollen an den Binnengrenzen zu benachbarten EU-Ländern wieder eingeführt werden können. Je stärker sich die Zuwanderung von Flüchtlingen auf wenige EU-Staaten wie Deutschland, Österreich und Schweden beschränkt und die Umverteilung nicht klappt, desto mehr Länder dürften Grenzkontrollen einführen. Und je mehr Schengen-Staaten zu solchen Maßnahmen greifen und je länger diese dauern, desto wahrscheinlicher wird ein Kollaps. Viel Zeit für eine Lösung bis zum EU-Gipfel im März bleibt nicht.

Was passiert, wenn auch Deutschland seine Grenzen dicht macht?

Falls Deutschland Schweden bei den Grenzkontrollen folgt, „dann ist das nicht ein deutsches Problem, sondern eine enorme Gefährdung Europas“, warnte jüngst Schäuble in Brüssel. Griechenland wäre ganz schnell der Hauptleidtragende. Die gesamte Integration in der EU wäre gefährdet, der Protektionismus würde stark zu- und die Solidarität unter Euro-Ländern abnehmen. Rating-Agenturen dürften dann rasch für etliche Euro- und EU-Länder die Daumen senken und deren Kreditwürdigkeit herabstufen.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen drohen unmittelbar?

Warenhandel wird durch jede Grenzkontrolle beeinträchtigt. Laut Juncker könnten Transportunternehmen schon durch die aktuellen Grenzkontrollen jährliche Kosten in Höhe von drei Milliarden Euro entstehen. Das ist angesichts einer Wirtschaftsleistung der EU von rund 15 000 Milliarden Euro eher mickrig. Aber es bliebe ja nicht bei Mehrkosten durch Grenzkontrollen, wenn der Binnenmarkt nicht mehr reibungslos funktioniert.

Was bedeutet eine Abschottung für die deutsche Wirtschaft?

Deutschland im Zentrum Europas ist als Exportnation besonders auf den freien Warenverkehr angewiesen und wäre hart betroffen. Die größte Volkswirtschaft der EU und viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt würde geschlossene Grenzen trotz eines Desasters für Unternehmen, Arbeitnehmer und Sozialkassen aber wohl eher verkraften als andere EU-Staaten. Das Wohlstandsgefälle in Europa dürfte extrem zunehmen. Verbände und Gewerkschaften warnen für Deutschland: Allein durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung könnten sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren. Was natürlich auch Rückwirkungen auf Arbeitsplätze, Steuern und Abgaben hätte.

Was sagen Ökonomen zu den unmittelbaren Gefahren?

Der Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Clemens Fuest, hält aktuell die Auswirkungen für beherrschbar. Von einem drohenden Debakel für die Wirtschaft zu reden, sei übertrieben, sagte er im Südwestrundfunk. Grenzkontrollen seien zwar problematisch für Unternehmen. Auch gebe es Probleme für Berufspendler. Es käme aber vor allem darauf an, wie die Kontrollen organisiert würden. So könnte man an den Grenzen Lkw und andere Fahrzeuge größtenteils durchwinken.