Regierung besorgt Fremdenhass in Ostdeutschland verfestigt sich
Berlin (dpa) - Iris Gleicke spricht offen. Da gebe es gar nichts schönzureden, da helfe keine rosarote Brille, sagt die Ostbeauftragte der Bundesregierung und gibt unumwunden zu: Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands lahmt seit Jahren, und die Lücke dürfte sich auch langfristig kaum schließen.
Noch klarer wird die SPD-Politikerin bei ihrer eigentlichen Kernbotschaft: Der zunehmende Fremdenhass schade dem Standort Ostdeutschland und gefährde dort den gesellschaftlichen Frieden. Gleickes Warnung und ernüchterndes Fazit zu dem zuvor im Kabinett beratenen Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit: „Im Moment habe ich nicht viel Positives zu berichten.“
Der Rechtsextremismus stellt nach ihren Worten „in all seinen Spielarten eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“. Im Ausland werde sie überall - auch von potenziellen Investoren - auf diese Entwicklung und Situation hin angesprochen. Ein nicht weltoffener Standort erleide ökonomische Nachteile. Im Tourismus - etwa in Sachsen - gebe es teils deutliche Rückgänge.
Die große Mehrheit der Ostdeutschen sei zwar nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem: „Aber ich würde mir schon wünschen, dass diese Mehrheit noch lauter und deutlicher Stellung bezieht“. Auch Unternehmen und Gastwirte müssten Gesicht zeigen. Die dramatisch gestiegenen Zahlen rechtsextremer Übergriffe könnten nicht verschwiegen werden: „Sie sind so signifikant, wie sie sind.“
Für Ostdeutschland stehe viel auf dem Spiel, sagte die Politikerin aus Thüringen. 26 Jahre nach der Wiedervereinigung verläuft der wirtschaftliche Aufholprozess nach den Worten Gleickes seit einigen Jahren nur „äußerst verhalten“. Und dies sei noch „eher freundlich“ formuliert. 2015 habe die Wirtschaftskraft je Einwohner um 27,5 Prozent unter dem Niveau der alten Länder gelegen. „Viel schlimmer ist jedoch, dass angesichts der neuesten Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung nichts darauf hindeutet, dass sich diese Lücke mittel- oder auch nur langfristig schließen könnte“, sagte Gleicke.
Es sei ein deutlich stärkeres Wachstum nötig, um wirtschaftlich zu den westdeutschen Ländern aufzuschließen. Die massive Abwanderung und der Bevölkerungsrückgang führe aber dazu, dass Ostdeutschland bei der Entwicklung seiner realen Wirtschaftskraft weiter an Boden verliert. Die aktuellen Zahlen geben laut Gleicke Anlass zur Sorge. Das reale Wachstum lag 2015 in den ostdeutschen Flächenländern ohne Berlin mit 1,5 Prozent unter dem der Westländer mit 1,7 Prozent.
Wichtige Hemmnisse für mehr Wachstum seien die Kleinteiligkeit der Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland, das Fehlen großer Unternehmen sowie Konzernzentralen sowie eine geringe Innovationskraft. Mit Blick auf die Abwanderung und den Fachkräftemangel sagte Gleicke, die Integration von Flüchtlingen sei mittel- und langfristig eine Chance für den Osten. Das Problem der Massenabwanderung im Osten lasse sich aber nicht einfach durch Massenflucht aus dem Süden lösen. „Integration braucht Zeit, Geld und muss vor Ort gelebt werden.“ Ostdeutschland müsse für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive zu einer neuen Heimat werden.
Gleicke warnte allerdings auch vor Schwarzmalerei. Die ostdeutsche Wirtschaft liege heute fast auf EU-Durchschnittsniveau. Zu den positiven Entwicklungen gehörten die verbesserten Chancen für ostdeutsche Jugendliche sowie für Frauen. Auch von der Digitalisierung und Energiewende könnte Ostdeutschland langfristig profitieren. Der Arbeitsmarkt entwickle sich gut. Die Löhne seien gestiegen, ebenso die Tarifbindung. Der Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde seit Anfang 2015 sei ein Erfolg und habe - allen Unkenrufen zum Trotz - die Ost-Wirtschaft nicht überfordert.
Aus Sicht von DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben brauchen die neuen Länder mehr wettbewerbsfähige und forschungsstarke Industriebetriebe, die mit hochwertigen Produkten auf den Weltmärkten punkten können. Die Sorgen der Unternehmen um die Rahmenbedingungen, Fachkräftesicherung und Entwicklung der Arbeitskosten seien derzeit insgesamt größer als im Westen.