Friedensnobelpreis 2012 geht an die Europäische Union

Oslo (dpa) - Unterstützung für die europäische Idee in turbulenten Zeiten: Mitten in der Finanzkrise wird die EU mit dem Friedensnobelpreis 2012 ausgezeichnet. Das gab das norwegische Nobelkomitee in Oslo bekannt.

Komiteechef Thorbjørn Jagland begründete die Entscheidung damit, dass die Europäische Union über sechs Jahrzehnte entscheidend zur friedlichen Entwicklung in Europa beigetragen habe. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach von einer „großen Ehre“. Die Entscheidung für die oft als Bürokratiemonster gescholtene EU stieß aber auch auf Kritik. In Norwegen stellten EU-skeptische Politiker die Jury infrage.

Das fünfköpfige Komitee hob in seiner Begründung die deutsch-französische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg als herausragendes Ergebnis der europäischen Integration heraus. „Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar“, hieß es.

Als weitere Leistungen der EU nannte Komiteechef Jagland die Förderung der demokratischen Entwicklung in den südeuropäischen Ländern und die Integration osteuropäischer Staaten nach dem Mauerfall 1989. „Dies ist ein historischer Preis sowohl in langfristiger wie in aktueller Perspektive“, sagte Jagland.

Der Preis wird am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in Oslo verliehen. Wer ihn für die Staatengemeinschaft entgegennimmt und was mit den umgerechnet 930 000 Euro Preisgeld geschehen soll, stand am Freitag noch nicht fest. Im Vorfeld waren auch die russische Menschenrechtsorganisation Memorial und deren Mitbegründerin Swetlana Gannuschkina (70) als mögliche Preisträger gehandelt worden.

Komiteechef Jagland sowie der Direktor des Nobelinstituts, Geir Lundestad, gelten seit mehreren Jahren als Verfechter der Vergabe an die EU. Die diesjährige Entscheidung sei einstimmig von allen fünf Mitgliedern des Komitees getragen worden, erklärte Jagland. Das Komitee ist nach einem Parteienproporz zusammengesetzt, der auch zwei EU-kritische Parteien berücksichtigt.

Trotzdem wurde nach der Bekanntgabe Kritik laut. Audun Lysbakken, Chef der normalerweise in der Jury vertretenen EU-kritischen Linkssozialisten, warf Jagland unfeine Methoden vor. „Hat Jagland im Komitee geputscht, während unsere Vertreterin krank war?“ fragte der Parteichef im Onlinemedium aftenposten.no. Die Linkssozialistin in der Jury war wegen längerer Krankheit durch den nicht zur Partei gehörenden Bischof Gunnar Stålsett ersetzt worden.

Offen blieb in Oslo, warum der TV- und Rundfunksender NRK den Preisträger eine Stunde vorab verkünden konnte - das ist höchst ungewöhnlich. Spekulationen machten die Runde, dass möglicherweise Gegner der Entscheidung mit Insiderwissen dem Komiteechef den „Spaß verderben wollten“. Bereits am Vorabend hatten sich Gerüchte verbreitet, dass der Nobelpreis diesmal an die EU gehen könnte.

„Der Preis ist eine wichtige Botschaft für Europa: dass die EU etwas sehr Wertvolles ist, dass wir sie zum Wohle der Europäer und der ganzen Welt pflegen sollten“, sagte Kommissionspräsident Barroso in Brüssel. Ratspräsident Herman Van Rompuy bezeichnete die Verleihung als „unglaubliche Ehre“ und „größtmögliche Anerkennung der tiefen politischen Motive, die hinter der Union stehen“. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), zeigte sich „sehr berührt und geehrt“.

Die USA würdigten die „außergewöhnlichen Errungenschaften“ der EU beim Frieden und der europäischen Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg. „Wir sprechen von einer Region in der Welt, die zweimal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Krieg versunken ist und die durch das Projekt Europäische Union demonstriert hat, dass die Beilegung von Differenzen auf politische Weise ein bei weitem besserer Weg ist als durch Krieg“, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) freute sich über die „wunderbare Entscheidung“. „Das ist Ansporn und Verpflichtung zugleich - auch für mich ganz persönlich“, sagte sie in Berlin. Frankreichs Präsident François Hollande wollte den Preis ebenfalls als Auftrag verstanden wissen: „Diese Auszeichnung verpflichtet uns alle, den Weg zu einem Europa fortzusetzen, das noch vereinter, noch gerechter, noch stärker und noch friedensstiftender ist.“

Altkanzler Helmut Kohl (CDU), der wegen seiner Verdienste um die Deutsche Einheit und Europa immer wieder selbst für den Preis vorgeschlagen worden war, erklärte über sein Büro: „Als Europäer haben wir heute allen Grund, stolz zu sein. Ich bin es.“ Der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, einer der Architekten der europäischen Einigung, sprach von einem großen emotionalen Augenblick für sich persönlich.

Auch Israel gratulierte. „Der beispielhafte Erfolg der EU bei der Schaffung von Frieden nach zwei Weltkriegen ist eine Inspiration für die ganze Nationenfamilie“, schrieb Außenamtssprecher Jigal Palmor in einer Mitteilung. Ungarn und Serbien schlossen sich den Glückwünschen an. Damit werde ein „Geist“ honoriert, der es ermöglicht, dass die Europäer nach zwei Weltkriegen friedlich zusammenleben, sagte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. Er hatte die EU in der Vergangenheit heftig kritisiert. Serbien strebt den EU-Beitritt an.

Die russische Aktivistin Gannuschkina von Memorial kritisierte die Entscheidung als Zeichen von „Impotenz“. „Die Auszeichnung ist einer staatlichen bürokratischen Struktur zuerkannt worden“, sagte sie enttäuscht. Russische Bürgerrechtler hatten sich große Hoffnungen auf den Preis gemacht - als Anerkennung für die von Präsident Wladimir Putin zunehmend geschwächte Zivilgesellschaft.

Nach dem Testament des Preisstifters Alfred Nobel (1833-1896) soll derjenige mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, der im vorausgegangenen Jahr am meisten für den Frieden getan habe. Die Europäische Union bemüht sich seit Jahren auch außerhalb der eigenen Grenzen um die Verhinderung und Entschärfung von Konflikten.