Frühe Krankenscheinpflicht könnte für Firmen zum Eigentor werden
Erfurt (dpa) - Es ist ein Urteil, das Arbeitnehmer aufhorchen lässt: Beschäftigte müssen bereits am ersten Krankheitstag ein ärztliches Attest vorlegen, wenn ihr Chef das von ihnen verlangt. Das war zwar auch bisher schon möglich, doch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom Mittwoch geht noch ein Stück weiter.
Nach dem Erfurter Richterspruch muss der Arbeitgeber nicht mehr begründen, warum er schon so früh auf einen Krankenschein pocht. „Ob eine Begründung vorliegen muss oder nicht, darüber gingen die Meinungen der Juristen bisher auseinander“, sagt der langjährige Arbeitsrechtler und einstige Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Reinhard Vossen.
Mit dem Erfurter Urteil werde es für Mitarbeiter nun schwieriger, sich gegen derartige einseitige Anordnungen zu wehren. „Sie müssen diesen in aller Regel Folge leisten.“ Beschäftigte könnten im Streitfall höchstens bei dem Verdacht auf Willkür oder Diskriminierung dagegen vorgehen. „Das dürfte allerdings im Einzelnen schwer nachzuweisen sein, weil das Ausnahmetatbestände sind“, meint Vossen.
Auch in dem Fall der Redakteurin, die vor dem Bundesarbeitsgericht geklagt hatte, vermochten die obersten deutschen Arbeitsrichter keine Willkür erkennen. Die 59-Jährige hatte eigenen Angaben zufolge wegen der Verweigerung einer Dienstreise derart hohen Blutdruck bekommen, dass sie einen Tag zu Hause blieb. Daraufhin forderte sie der Westdeutsche Rundfunk in Köln auf, künftig immer gleich am ersten Tag der Krankmeldung ein Attest vom Arzt vorzulegen. Da das nicht von allen Mitarbeitern verlangt wurde, vermutete sie Schikane. „Ich weiß nicht, warum ich anders behandelt werde, als alle anderen“, sagte die erfolglose Klägerin nach der Verhandlung in Erfurt.
Für den Düsseldorfer Arbeitsrechtler Tobias Törnig kommt die höchstrichterliche Entscheidung dennoch wenig überraschend. Er rät Arbeitgebern trotzdem, sich genau zu überlegen, in welchen Fällen sie derartige Anweisungen treffen: „Der Schuss kann auch nach hinten losgehen“, warnt der Rechtsanwalt. Verlange der Chef schon am ersten Krankheitstag eine Bescheinigung, zwinge er damit Arbeitnehmer auch beim kleineren Unwohlsein zum Arztbesuch. „Und die Ärzte schreiben zumeist länger als einen Tag krank“, gibt Törnig zu bedenken.
In der Praxis wird die Vorlage des Krankenscheins häufig bereits im Arbeits- oder Tarifvertrag geregelt. In vielen Firmen - wie etwa beim Maschinenbauer Trumpf im baden-württembergischen Ditzingen - ist ein Krankenschein nach drei Tagen kein Problem. „Bei uns herrscht eine Kultur des Vertrauens und das wird von den Mitarbeitern auch nicht ausgenutzt“, sagte ein Trumpf-Sprecher. Die Beschäftigten müssen erst am vierten Kalendertag ein Attest vorlegen. Das Unternehmen, das in Deutschland rund 5000 Mitarbeiter hat, sieht auch nach dem Erfurter Urteil keine Veranlassung, daran etwas zu verändern.