Gaddafis Ende: Menetekel für Arabiens Despoten
Kairo/Beirut (dpa) - Der gewalttätige Tod des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi lässt in der Region niemanden unberührt. Die, die noch gegen ihre Despoten-Regime kämpfen, schöpfen Hoffnung. Autokraten wie Assad möchten die für sie unangenehme Realität am liebsten verdrängen.
Jeder sah die Bilder von ekstatisch schreienden libyschen Freiheitskämpfern, wie sie ihren blutverschmierten, früheren Peiniger in Sirte durch die Gegend zogen - auf eigenen Beinen stehend, aber sonst wie entgeistert wirkend.
„Gott ist groß!“ und „Lasst ihn am Leben!“ riefen sie ununterbrochen, und immer wieder auch: „Misrata! Misrata!“, den Namen jener Stadt, die in diesem Aufstand am meisten gelitten hat. Wochenlang war Misrata von den Gaddafi-Truppen mit geradezu mittelalterlicher Grausamkeit belagert worden war - und hatte standgehalten.
Verwackelt wie sie waren, konnten die dramatischen Aufnahmen einer Handy-Kamera niemanden kalt lassen. Die Opposition in Syrien beflügelten sie. Seit sieben Monaten verlangen die Syrer den Rücktritt des autokratischen Präsidenten Baschar al-Assad. Seit sieben Monaten lässt dieser seine Sicherheitskräfte auf die gewaltlosen Demonstranten schießen.
Am Freitag zogen sie in Homs mit Transparenten auf die Straße, auf denen stand: „Baschar, du bist der nächste!“ Viele zeigten sich mit libyschen Fahnen. „Uns hat Gaddafis Tod Hoffnung gegeben“, sagte Madschid al-Arabi von der Oppositionsgruppe Freie Menschen von Damaskus dem Nachrichtensender Al-Dschasira.
Das Regime reagierte, wie es zu erwarten war. In Homs schossen die Truppen auf das rumorende Volk, mindestens drei Demonstranten starben. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana berichtete über den Tod Gaddafis mit keinem einzigen Wort. Einige Regime-Zeitungen vermeldeten ihn knapp und trocken, ohne die Bilder, die den blutüberströmten Ex-Diktator zeigen.
In Ägypten hatte das Volk den autoritären Präsidenten Husni Mubarak im Februar aus dem Amt gejagt. Dort erinnerte das blutige Ende Gaddafis daran, dass sich der eigene Ex-Despot zwar vor Gericht verantworten muss, aber die Zeit zwischen den Verhandlungen im Luxusspital verbringt. Die Fernsehaufzeichnungen beim Prozess wegen der Tötung von mehr als 800 Demonstranten sind längst schon gestrichen, die wichtigsten Zeugenaussagen erfolgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. In Kairo glauben inzwischen viele, dass der 83-jährige Mubarak ungeschoren davonkommt.
Dafür zeigen die Generäle, die nach seinem Abgang provisorisch die Macht übernommen haben, autoritäre Tendenzen. Militärgerichte schicken bei Randalen wahllos festgenommene Demonstranten und selbst kritische Blogger für Jahre ins Gefängnis. Bei den Wahlen, die Ende November beginnen, könnten etliche Kader und Günstlinge des Mubarak-Regimes politisch wieder ins Spiel kommen. „Die Libyer waren gründlicher und sind deshalb weiter als wir“, meinte ein Pro-Demokratie-Aktivist in Kairo.
Dabei ist in Libyen noch längst nicht alles in trockenen Tüchern. Die Mehrheit feierte den Tod des exzentrischen Despoten. Doch vor allem in Tripolis und Sirte gibt es eine - in diesen Zeiten naturgemäß schweigsame - Minderheit, die mit ihren Gefühlen an Gaddafi und seinem plumpen populistischen Gehabe hing. Die Widersprüche um seine Festnahme und Tötung bestärken diese Menschen in ihrer Auffassung von einem Märtyrer.
Tatsächlich erscheint es immer plausibler, dass die Kämpfer, die Gaddafi festnahmen, ihn erschossen haben. Mahmud Dschibril, der Übergangs-Premier, erklärte zwar am Donnerstagabend, Gaddafi sei erst getötet worden, als der Pritschenwagen, der den Verletzten nach Misrata bringen sollte, ins Kreuzfeuer neuer Kämpfe geriet. Überzeugend klingt das nicht. Es gibt Video-Clips, die Gaddafi zwar blutend, aber lebend zeigen, und andere, auf denen sein lebloser Körper am Boden weggezerrt wird.
Möglicherweise wird Gaddafis Leichnam bald irgendwo anonym verscharrt, und die Mehrheit der Libyer macht sich an den Aufbau eines demokratischen Systems. Die Schwierigkeiten sind enorm, aber die Chancen auch. In Libyen gibt es keine demokratischen Traditionen, es fehlen die meisten Institutionen des zivilen Staates.
Zugleich hat das Land viel Erdöl und eine zahlenmäßig kleine und junge Bevölkerung. Wenn es gelingt, den Schwung des revolutionären Umsturzes in zivile, demokratische Bahnen zu lenken, wird die arabische Welt weiter gebannt auf den Wüstenstaat am Mittelmeer blicken.