Thema des Tages Gotthard-Tunnel noch kein Durchbruch für Europas Bahnverkehr
Erstfeld/Berlin (dpa) - Ein Meisterwerk der Ingenieurskunst ist es zweifellos. Mit je 57 Kilometern sind die beiden Röhren durch die Schweizer Alpen der längste Eisenbahntunnel der Welt.
Heute soll der Gotthard-Basistunnel feierlich eröffnet werden, nach vielen Testfahrten soll der reguläre Zugverkehr mit dem Fahrplanwechsel am 11. Dezember aufgenommen werden. Fraglich ist jedoch, ob der große Durchbruch durch den Berg auch ökonomisch zu einer Erfolgsgeschichte wird.
Beim Güterverkehr hängt viel von Deutschland ab. Die Transporteure beklagen Versäumnisse beim deutschen Schienennetz. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) spricht gar von einer Blamage der Verkehrspolitik. Die Deutsche Bahn hält die neue Tunnelstrecke zwar für einen „Meilenstein“ des europäischen Schienenverkehrs, sie sei „aber nur der erste Schritt“.
„Der Tunnel funktioniert nur, wenn die nachgelagerten Schienennetze deutlich ausgebaut werden“, sagt Frank Rösch vom Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik. „Da wird Deutschland deutlich zulegen müssen.“ Andererseits sei damit zu rechnen, dass der Tunnel „eine Katalysatorwirkung haben wird“ - also auf deutscher Seite schneller gebaut wird. Dazu gehörten auch Güterbahnhöfe, auf denen extralange Züge bis 740 Meter für den Alpentransit zusammengestellt werden könnten.
Noch fehlen leistungsfähige Zubringerstrecken, nicht nur in Deutschland, auch in der Schweiz und in Italien. Als wichtiges Verbindungsstück nach Süden ist auf Schweizer Gebiet der 15 Kilometer lange Ceneri-Tunnel im Bau. Er soll 2020 betriebsbereit sein.
Deutlich länger wird es dauern, bis die 182 Kilometer lange deutsche Zubringerstrecke Karlsruhe-Basel komplett ausgebaut ist, über die fast der gesamte Güterverkehr aus dem Norden in die Schweiz kommt. Frühestens 2035 wird der Abschnitt viergleisig befahrbar sein. „In Deutschland sind die Planungen nicht erreicht worden, wir sind mit dem eigenen Zeitplan in Verzug“, stellt der Ministerialdirigent im Bundesverkehrsministerium, Hugo Gratza, fest.
Die Bundesregierung habe es in den 17 Jahren Bauzeit des Gotthard-Tunnels geschafft, „das Ziel der Verlagerung auf die Schiene zu vernachlässigen“, kritisiert der VCD. Dabei sei innerhalb weniger Jahre die Autobahn von Baden-Baden nach Offenburg für den Lkw-Verkehr sechsspurig ausgebaut worden, „nachdem zuvor die Planungsmittel für den Ausbau der Rheintalbahn gestrichen wurden“, sagt der baden-württembergische VCD-Landeschef Matthias Lieb.
Auf dem Schienenkorridor von Rotterdam an der Nordsee bis Genua am Mittelmeer sind pro Jahr mehr als eine Milliarde Tonnen Fracht unterwegs. Prognosen rechnen mit einer Verdoppelung bis zum Jahr 2030, wenn die Kapazität vorhanden ist. Gratza sagt, die Bundesregierung wolle bei wachsendem Volumen den Anteil der Schienentransporte am gesamten Güterverkehr von derzeit 17 Prozent zumindest halten. Rund 9000 Züge der deutschen Güterbahn DB Cargo fuhren im vergangenen Jahr über die Gotthard-Route - Tendenz steigend.
Am Gotthard werden bereits 69 Prozent der Gütermenge per Bahn befördert und nur noch 31 Prozent per Lastwagen. Die Zahl der Lkw-Fahrten sank von 1,4 Millionen (2000) auf 1,0 Millionen (2014) und soll nach den Plänen der Regierung bis 2018 auf 650 000 gedrückt werden - mit Hilfe des neuen Bahntunnels und einer höheren Lkw-Maut.
Für die Schweizer ist es das übergeordnete Ziel, ihre Täler von Abgasen zu entlasten. Zwei Volksabstimmungen für das Gesamtprojekt „Neue Eisenbahn-Alpentransversale“ (NEAT) und seine Finanzierung legten die Grundlage dafür. Dazu gehören auch der 2007 eröffnete Lötschbergtunnel im Westen und der Ceneri-Tunnel.
Hinter dem Umweltschutz reiht sich die Frage ein, ob sich die 13 Milliarden Schweizer Franken (11,7 Mrd Euro) teure Gotthard-Strecke auch rechnet. „Volkswirtschaftlich wohl ein Nullsummenspiel“ sei der neue Tunnel, vermutet der Vizedirektor des Schweizerischen Bundesamts für Verkehr, Gery Balmer, angesichts der enormen Investitionen.
Erst einmal soll der Tunnel einen Zeitgewinn von bis zu 45 Minuten bringen. Die Strecke ist rund 30 Kilometer kürzer als die alte, die auf 1150 Meter hinauf durch den Tunnel aus dem Jahr 1882 führt. Der neue Tunnel liegt auf nur rund 550 Metern Höhe, die Strecke verläuft ohne starke Anstiege. Dadurch entsteht von Rotterdam bis Genua eine „Flachbahn“, wie Eisenbahner das nennen.
Das ist der größte Vorteil des neuen Tunnels: Güterzüge brauchen nur noch eine statt zwei Lokomotiven für die Alpendurchquerung oder zwei statt drei für die ganz schweren Züge mit bis zu 2000 Tonnen Gewicht. Statt maximal 180 Güterzügen pro Tag auf der historischen Bergstrecke können es künftig damit bis zu 260 sein.