Guido Westerwelle: Ein Politiker, der oft polarisierte

Berlin (dpa) - Im Herbst vor anderthalb Jahren dachte Guido Westerwelle schon einmal, es sei soweit. Wegen seiner Leukämie hatte er in der Uniklinik Köln von einem fremden Spender Knochenmark-Stammzellen transplantiert bekommen.

Auf eine der vielen Infusionen, die danach sein müssen, reagierte sein Körper allergisch. Das Herz raste, die Augen kippten nach hinten, er bekam keine Luft. „Ich dachte: So also fühlt es sich an, das Sterben.“

Heute ist der ehemalige FDP-Vorsitzende, Außenminister und Vizekanzler nun tatsächlich gestorben. Mit 54 Jahren nur, an den Folgen von akuter myeloischer Leukämie, einem Blutkrebs der besonders schlimmen Art.

Auf der Homepage seiner Stiftung, der Westerwelle Foundation, war kurz danach ein Foto aus glücklicheren Tagen zu sehen. Ein Selfie mit seinem Mann Michael Mronz, irgendwo am Strand. Dazu vier Zeilen Text: „Wir haben gekämpft. Wir hatten das Ziel vor Augen. Wir sind dankbar für eine unglaublich tolle gemeinsame Zeit. Die Liebe bleibt.“ Darunter das Datum und ihre beiden Namen.

Mit dem Buch, das er über seine Krankheit verfasste („Zwischen zwei Leben - Von Liebe, Tod und Zuversicht“), hatte der FDP-Politiker in den vergangenen Monaten viele Menschen gerührt. Aber die Hoffnung, noch einmal davon zu kommen, trog dann doch.

Westerwelle - die ganze Karriere hindurch immer einer der Jüngsten - gehörte zur kleinen Zahl von Politikern, die sowohl in der späten Bonner als auch in der Berliner Republik prägende Gestalten waren. Aus dieser Generation ist er jetzt auch einer der ersten, die zu Grabe getragen werden.

Zeit seines Lebens gehörte der Anwaltssohn aus Bonn zu den Leuten, über die die Meinungen auseinandergingen. Bewundert, bejubelt, verspottet, verhasst. Zu Beginn der 80er Jahre fiel er zum ersten Mal auf: Als im Bonner Hofgarten Hunderttausende gegen die Nachrüstung demonstrierten, stand Westerwelle mittendrin und verteilte Flugblätter - dafür. Das war für ihn der „Ausdruck vom Recht auf eine eigene Meinung“, von Selbstbehauptungswillen auch.

Nach dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 war Westerwelle bei der Gründung des neuen rechtsbürgerlichen FDP-Nachwuchses dabei, der Jungen Liberalen. Im Jahr darauf wurde er deren Vorsitzender - der Beginn eines Lebens fast ausschließlich für die Politik. Eher nebenbei studierte er Jura, machte an der Fern-Uni Hagen seinen Doktor, wurde Anwalt.

Als „Ziehvater“ galt lange Zeit Hans-Dietrich Genscher. Dessen Nachfolger Klaus Kinkel machte ihn - mit gerade mal 32 Jahren, was damals noch ungewöhnlich war - zum Generalsekretär der FDP. Westerwelle war Ehrgeiz pur. Lauter, forscher, schriller als jeder andere. Auf Parteitagen konnte er die Leute schwindlig reden.

2001, mit 39, wurde er FDP-Chef und machte sich daran, die Liberalen vom Mehrheitsbeschaffer zur „Partei des ganzen Volkes“ zu verwandeln. Er ließ sich zum Kanzlerkandidaten ausrufen, reiste im Wohnmobil durch die Republik, stieg bei „Big Brother“ in den Container und malte sich eine gelbe „18“ als Wahlziel auf die Schuhsohle. Einmal deklarierte er sich sogar zur „Freiheitsstatue der Republik“.

Westerwelle lag damals im Zeitgeist, hielt im Bundestag die besten Reden. Er fing schon damit an, für die FDP wieder Ministerposten zu verteilen. Trotzdem blieb es bei Opposition. Kritik musste er aushalten bis zum Unmaß, ohne dass ihn dies besonders nachtragend machte. Aber es gab auch Sachen, die er nie verzieh. Zum Beispiel, dass er einmal den „Spiegel“ in seine Wohnung ließ und dann als Träger von „Stoppersocken“ geoutet wurde.

Die Affäre um Jürgen Möllemann, als die FDP in die Nähe des Antisemitismus geriet, ließ ihn für eine Weile leiser werden. In diesen Jahren bekannte er sich zu seiner Homosexualität, präsentierte 2004 am 50. Geburtstag von Angela Merkel auch einen Partner, den Sportmanager Michael Mronz. Wer geglaubt hatte, dass er damit etwas von seinem Misstrauen verlieren würde, sah sich getäuscht.

Und dann, im dritten Versuch, 2009, gelang doch noch die Wunsch- Koalition mit der Union - mit einem Sensationsergebnis von 14,6 Prozent. Die Versprechen waren groß und die Erwartungen auch.

Doch in der Stunde des Triumphs machte Westerwelle einen seiner größeren Fehler: Er übernahm nicht das Finanz-, sondern das Außenministerium. Die Rechnung, damit auch die Beliebtheitswerte der Vorgänger zu übernehmen, ging nicht auf. Viele nahmen ihm den Wandel zum Diplomaten nie ab.

Nach anderthalb Jahren verlor auch die eigene Partei die Geduld. Westerwelle musste FDP-Vorsitz und Vizekanzlerposten abgeben. Gezwungenermaßen konzentrierte er sich aufs Auswärtige Amt, wo er sich zunehmend Respekt erarbeitete.

Sein vielleicht wichtigster Begriff: die „Kultur der militärischen Zurückhaltung“. In seiner umstrittensten Entscheidung - der deutschen Enthaltung zum Libyen-Einsatz im UN-Sicherheitsrat - sah er sich durch den Lauf der Dinge bestätigt. Trotzdem ist die deutsche Außenpolitik heute eine andere.

Alles in allem war Westerwelle in seinen vier Ministerjahren in mehr als 100 Ländern zu Besuch. Allzu oft bekam er nur Hotels und Außenministerien zu Gesicht. In manche Städte wollte er deshalb unbedingt zurück: nach Istanbul, Hongkong, Tel Aviv und unbedingt natürlich nach New York. Aus dem Wenigsten ist etwas geworden. Auch die Pläne für die „Westerwelle Foundation“ konnte er nie so richtig umsetzen.

Nach der dramatischen Niederlage bei der Bundestagswahl 2013 - die FDP kam nicht mal mehr ins Parlament - bekam er von vielen Außenministerkollegen auch Einladungen für die „Zeit danach“. Auf den letzten Dienstreisen ließ sich gut mit ihm über die Frage streiten, was solche Angebote wert sind. Er glaubte daran, dass sie ehrlich gemeint waren. Die Antwort erfuhr er nie so recht.

Auf den Tag genau ein halbes Jahr nach seinem letzten Tag als Minister bekam Westerwelle die Diagnose Leukämie. In der Öffentlichkeit trat er dann nur noch selten auf. Ausnahme waren ein paar Tage im vergangenen November, in denen er das Buch vorstellte, das er zusammen mit dem ehemaligen „Stern“-Chefredakteur Dominik Wichmann verfasst hatte.

Westerwelle überall: Aufmacher der „Bild“-Zeitung, Titelbild des „Spiegels“, bei Günter Jauch in der Talkshow. Für kurze Zeit schien es wie früher - abgesehen davon, dass Westerwelle plötzlich auch Respekt und Mitgefühl von Leuten bekam, die ihm nie ihre Stimme gegeben hätten. Und dass es auf Fragen zur aktuellen Politik von ihm die Antwort kam: „Für mich ist das so weit weg. Und so lange her.“

Damals hofften viele, dass der Krebs besiegt war. Westerwelle selbst wusste, dass dem noch nicht so war. Heute starb er nun, in der Uniklinik Köln, dort, wo er die Krebsbehandlung auch begonnen hatte. Ende November hatte er sich wieder zur stationären Behandlung dorthin begeben müssen. Begründet wurde dies offiziell mit einer „Medikamentenumstellung“. Aber manche ahnten schon, dass das keine gute Nachricht war.

Sein Wunsch, zuhause zu sterben - ohne Ärzte um sich herum, ohne Schläuche im Blick, ohne Notknopf über dem Bett -, ging also nicht in Erfüllung. In seinem Buch hatte er zum Moment seines Todes geschrieben: „Ich hielte es eher mit meiner Großmutter, die lieber im Meer vor Mallorca ertrunken als in einem deutschen Bett dahingesiecht wäre.“

Westerwelle hinterlässt seinen langjährigen Lebensgefährten Mronz, mit dem er auch fast auf den Tag fünfeinhalb Jahre verheiratet war. Ihm hatte er auch das Buch gewidmet. „Für Michael. Den Mann meiner zwei Leben.“ Kinder hatte er zu seinem Bedauern keine.