Porträt: Führungsstarker Dissident
Moskau (dpa) - „Chodorkowski in Freiheit!“ prangt es in roten Lettern von der Internetseite des lange Zeit prominentesten politischen Gefangenen Russlands.
Michail Chodorkowski (50), einst der reichste Mann des Landes und noch immer nicht arm, verließ am Freitag mit dem Helikopter den Ort seines Straflagers nahe der finnischen Grenze. Der schärfste Gegner von Kremlchef Wladimir Putin reiste nach dem Gnadenakt des Präsidenten nach Deutschland. Nach Moskauer Angaben will er dort seine krebskranke Mutter treffen, die aber nach eigener Aussage noch in Russland weilt.
Auch seine Frau Inna, die beiden gemeinsamen Söhne und die Tochter will er wiedersehen, die er in den zehn Jahren in Haft vermisst hat. Geschrieben hat der am 26. Juni 1963 in Moskau geborene Chodorkowski über seine Familie auch in seinen Büchern - doch gebrochen hat ihn die Sehnsucht nach den Angehörigen nicht. Er hat noch einen Sohn aus erster Ehe, der in den USA lebt.
Immer wieder hatte der Kreml dem Dissidenten eine Begnadigung in Aussicht gestellt, sollte er nur ein Schuldeingeständnis ablegen. Aber die Vorwürfe wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Öldiebstahls hat er stets als politische Inszenierung zurückgewiesen. Putins Umgebung verfolge nur das Ziel, ihn in die Knie zu zwingen - als Strafe dafür, dass er den Präsidenten vor laufenden Kameras kritisierte, ihm ein System der Korruption vorwarf und die Opposition finanzierte.
Sein Gnadengesuch an Putin unterschrieben hat er nach allem, was bekannt ist, wohl wegen der Krebserkrankung seiner Mutter Marina Chodorkowskaja. Die fast 80-Jährige schätzt er als wichtigste moralische Instanz in seinem Leben, wie er einmal schrieb.
Im Gefängnis verfasste der gelernte Chemiker Bücher und Briefe, die auch dazu führten, dass sich das Bild von ihm wandelte. Auch eine mit viel Geld betriebene weltweite PR-Maschinerie half dabei, das Bild von dem Multimilliardär, der über Nacht zu unvorstellbarem Reichtum gekommen war, zu verändern.
Chodorkowski sei jetzt eine „moralische Instanz“, ein „geistiger Führer“, meinte die Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung, Ljudmila Alexejewa, von der Moskauer Helsinki Gruppe. Sie verglich Chodorkowski mit den Dissidenten-Größen Vaclav Havel (1936-2011) und Andrej Sacharow (1921-1989).
Alexejewa betonte aber auch, dass dieser Weg nicht vorgezeichnet gewesen sei. Aber der harte Alltag im Straflager habe ihn zur Galionsfigur für all diejenigen Russen gemacht, die sich nach mehr demokratischen Freiheiten sehnen. Der frühere Oligarch, inzwischen mit internationalen Preisen bedacht, setzt sich in Schriften seit langem auch für eine Einigung der zersplitterten Opposition ein.
Charisma und ausgeprägte Führungsqualitäten bescheinigt ihm etwa die Journalistin Natalija Geworkjan. Gerade das mache Putin Angst. Chodorkowski und Geworkjan zeichnen in dem als Briefwechsel angelegten Buch „Mein Weg“ nach, wie der Unternehmer als Unterstützer der Opposition bei Putin einst in Ungnade fiel.
Chodorkowskis Pläne, eine selbstbewusste Zivilgesellschaft aufzubauen, endeten jäh. Das war am 25. Oktober 2003, als Uniformierte des Inlandsgeheimdienstes FSB seinen Privatjet in Sibirien stürmten und den Oligarchen festnahmen. Sein Widerstand gegen das System Putin kostete Chodorkowski am Ende nicht nur seine Freiheit, sondern auch seinen milliardenschweren Ölkonzern Yukos.
Ob und wie der Putin-Gegner künftig in Freiheit agieren kann, bleibt abzuwarten. Die kremlkritische Zeitschrift „The New Times“ meinte, dass Chodorkowski wohl kaltgestellt bleibe. Ein Gesetz verbiete es „Schwerverbrechern“ wie ihm viele Jahre, bei Wahlen selbst zu kandidieren. Menschenrechtler sehen ihn aber nun in einer Führungsrolle beim Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland.