Hintergrund Präsidialsysteme der Türkei, Frankreichs und der USA
Istanbul (dpa) - Eine knappe Mehrheit der Türken hat in dem Referendum am Sonntag für die Einführung eines Präsidialsystems gestimmt. Kritiker warnen vor allem vor der Gefahr einer Ein-Mann-Herrschaft.
Befürworter wenden ein, auch andere demokratische Staaten hätten Präsidialsysteme - zum Beispiel Frankreich oder die USA. Ein Vergleich der Systeme zeigt jedoch: In keinem dieser Länder ist der Präsident mächtiger als künftig in der Türkei.
EXEKUTIVE:
- TÜRKEI: Der Präsident wird Staats- und Regierungschef, das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Vize-Präsidenten kann er nach Belieben ernennen, sie stehen nicht mit ihm gemeinsam zur Wahl. Das gilt auch für Minister und hohe Staatsbeamte: Der Präsident wählt sie aus, eine Bestätigung des Parlaments ist nicht nötig.
- FRANKREICH: Der Präsident ist Staatschef, führt aber nicht die Regierung. Das ist Aufgabe des Premierministers, der vom Präsidenten ernannt wird. Weil die Nationalversammlung die Regierung mit einem Misstrauensvotum stürzen kann, muss aber faktisch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter dem Premierminister stehen.
- USA: Der Präsident ist Staats- und Regierungschef. Er wird gemeinsam mit seinem Vize-Präsidenten gewählt. Zur Ernennung von Kabinettsmitgliedern und von mehr als 1200 Regierungsbeamten benötigt er die Zustimmung des Senats.
LEGISLATIVE:
- TÜRKEI: Da der Präsident einer Partei angehören darf und vermutlich ihr Vorsitzender sein wird, kann er indirekt großen Einfluss im Parlament ausüben, das in der Türkei nur aus einer Kammer besteht. Zwar kann nur noch das Parlament Gesetzesentwürfe einbringen (eine Ausnahme bildet der Haushaltsentwurf). Der Präsident kann aber Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Das Parlament kann die Dekrete mit Gesetzen zum Thema des jeweiligen Erlasses unwirksam machen. Gegen Dekrete kann vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Der Präsident kann eine Parlamentsneuwahl veranlassen, muss sich dann aber zeitgleich selber zur Wahl stellen.
- FRANKREICH: Der Präsident gehört einer Partei an. Einfluss auf die Gesetzgebung kann er über die Regierung nehmen, die Gesetzesentwürfe einbringt - der Präsident steht den Kabinettssitzungen vor und unterzeichnet dort beratene Dekrete. Falls er keine Mehrheit in der Nationalversammlung hat und einen Premierminister aus einem anderen politischen Lager ernennen muss, schränkt dies seinen Einfluss faktisch deutlich ein. Er kann zudem eine Neuwahl zur Nationalversammlung ansetzen oder Referenden abhalten. Den Senat, das Oberhaus, kann er allerdings nicht auflösen. Auch ist er verpflichtet, im Parlament beschlossene Gesetze zu erlassen.
- USA: Der Präsident gehört einer Partei an, ist aber nur einer von mehreren Anführern dieser Partei. Der Kongress besteht aus zwei Kammern (Senat und Repräsentantenhaus), die beide Gesetzesentwürfe einbringen können. Der Präsident kann selbst keine Gesetze einbringen, aber er kann Dekrete erlassen, die durch Gesetze des Kongresses außer Kraft gesetzt werden können. Außerdem können alle Bundesgerichte über die Legalität der Dekrete entscheiden. Den Kongress kann der Präsident nicht auflösen.
JUDIKATIVE:
- TÜRKEI: Der Präsident bestimmt direkt oder indirekt sechs von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte, der unter anderem für die Berufung und Abberufung von Richtern und Staatsanwälten zuständig ist. Die restlichen sieben Mitglieder bestimmt das Parlament, auf das der Präsident aber als mutmaßlicher Parteichef großen Einfluss haben dürfte. Der Präsident ernennt außerdem zwölf der 15 Verfassungsrichter, die eine Amtszeit von zwölf Jahren haben und im alter von 65 jahren in den ruhestand gehen.
- FRANKREICH: Der französische Präsident ernennt zwei der aktuell 22 Mitglieder des Obersten Justizrats, einer Nominierungs- und Disziplinierungsinstanz für Richter und Staatsanwälte, und drei der neun Mitglieder des Verfassungsrats, des obersten Entscheidungsgremiums in Verfassungsfragen. Die zuständigen Ausschüsse des Parlaments können diese Nominierungen blockieren, im Falle des Verfassungsrates nur mit Dreifünftelmehrheit.
- USA: Bundes- und Verfassungsrichter werden vom Präsidenten ernannt, müssen aber vom Senat bestätigt werden. Die Ernennung erfolgt auf Lebenszeit, was maximale Unabhängigkeit von den jeweils wechselnden Präsidenten gewährleisten soll.
HAUSHALT:
- TÜRKEI: Der Präsident bringt den Entwurf für den Staatshaushalt ein. Eine Zustimmung des Parlaments ist nötig. Sollte der Entwurf keine Mehrheit finden, gilt bis auf Weiteres der alte Haushalt mit einem Inflationsausgleich. Das Parlament kann die Arbeit der Regierung also durch Ablehnung nicht zum Stillstand bringen.
- FRANKREICH: Die Regierung bringt den Entwurf für den Staatshaushalt ein, der anschließend von den zwei Parlamentskammern beraten und beschlossen wird. Der Präsident nimmt in der Praxis wie bei anderen Gesetzen Einfluss.
- USA: Der Präsident bringt den Rahmen für den Staatshaushalt des Bundes ein, der Kongress muss zustimmen und kann Änderungen hinzufügen. Wenn der Kongress nicht zustimmt, kann es im schlimmsten Fall dazu kommen, dass die Regierung kein Geld mehr ausgeben kann. Das zwingt den Präsidenten zu Kompromissen.
WAHLEN:
- TÜRKEI: Gewählt werden Präsident und Parlament alle fünf Jahre am selben Tag. Dazwischen haben Wähler keine Möglichkeit, die Arbeit des Präsidenten, seiner Regierung oder des Parlaments zu bewerten. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten stärkste Kraft im Parlament wird.
- FRANKREICH: Seit dem Jahr 2000 findet die Wahl zum Unterhaus (Nationalversammlung) zumindest im selben Jahr wie die Präsidentschaftswahl statt. Die Sitze im Oberhaus (Senat), das im Vergleich eine untergeordnete Rolle spielt, werden alle drei Jahre zur Hälfte neu besetzt.
- USA: In den USA gibt es Zwischenwahlen: Zur Halbzeit der Amtszeit des Präsidenten werden zahlreiche Mitglieder des Kongresses gewählt. Das gibt Wählern die Möglichkeit, ein Gegengewicht zum Präsidenten und zur Politik des Kongresses zu schaffen.
AMTSZEITEN:
- TÜRKEI: Die Amtszeiten des Präsidenten sind auf zwei mal fünf Jahre beschränkt. Die Reform sieht aber eine Hintertür vor: Wenn das Parlament in der zweiten Legislaturperiode des Präsidenten eine Neuwahl beschließt, darf er erneut kandidieren. Verfassungsexperten des Europarates kritisierten, es sei nicht ausgeschlossen, dass sich dieser Schritt beliebig oft wiederholen lasse.
- FRANKREICH: Der Präsident wird ebenfalls für fünf Jahre gewählt. Es ist maximal eine direkte Wiederwahl möglich.
- USA: Der Präsident wird für vier Jahre gewählt. Es ist maximal eine direkte Wiederwahl möglich.
FÖDERALISMUS:
- TÜRKEI: Die Zentralregierung unter dem Präsidenten ernennt die Gouverneure der 81 Provinzen, eine Zustimmung ist nicht nötig. Bürgermeister werden gewählt, haben aber nur begrenzten Einfluss.
- FRANKREICH: Provinzgouverneure gibt es nicht. Stattdessen gibt es Präfekten der einzelnen Departements und Regionen, die unter anderem der Polizei vorstehen. Sie werden vom Präsidenten auf Vorschlag des Premierministers und nach Anhörung des Kabinetts ernannt.
- USA: Förderalismus ist die Grundlage der Vereinigten Staaten. Die Autorität des Präsidenten ist auf Bundesangelegenheiten beschränkt. Bundesstaaten haben hochgardige Autonomie und können beispielsweise Verfassungsänderungen blockieren.