Reich-Ranicki schildert Deportation der Warschauer Juden
Berlin (dpa) - Eindringlich und erschütternd hat der Literaturkritiker und Holocaust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki im Bundestag von der Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto berichtet.
Zum 67. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erzählte der 91-jährige Überlebende, wie die SS im Juli 1942 die „Umsiedlung“ anordnete. Am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am selben Tag nahm der Neonazi-Untersuchungsausschuss des Bundestages in Berlin seine Arbeit auf. Er soll mögliche Pannen der Sicherheitsbehörden bei den jüngsten Neonazi-Morden aufklären.
Mit brüchiger Stimme trug Reich-Ranicki seine Schilderungen vor. Er wurde 1942 als Übersetzer des Judenrats in das Zimmer des Obmanns Adam Czerniaków gerufen. Der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle suchte einen Protokollanten. Reich-Ranicki erfuhr dabei, dass die SS die sofortige „Umsiedlung“ der Warschauer Juden „nach Osten“ anordnete. Unter anderem die Ehefrauen und Kinder der beim Judenrat Beschäftigten würden ausgenommen. Sofort habe er seine Freundin Teofila gerufen. Sie heirateten noch am gleichen Tag.
Zum Schluss seiner Rede bilanzierte Reich-Ranicki: „Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die "Umsiedlung" der Juden genannt wurde, war bloß (...) eine Aussiedlung, die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck - den Tod.“
Reich-Ranicki wirkte gesundheitlich angeschlagen. Bundespräsident Christian Wulff und der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, stützten den 91-Jährigen auf dem Weg zum und vom Rednerpult. An dem Gedenken nahmen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) teil. Nach der Rede herrschte im Bundestag minutenlange Stille, unterbrochen durch verhaltenen Beifall.
Der Bundestag erinnert seit 1996 jährlich an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. In mehreren Bundesländern wurde ebenfalls der Millionen Holocaustopfer des Nazi-Regimes gedacht.
Die Vereinten Nationen riefen alle Menschen zum weltweiten Kampf gegen Gewalt auf. „Lasst uns die Opfer ehren, indem wir neuem Unrecht vorbeugen“, sagte der Präsidenten der UN-Vollversammlung, Nassir Abdulasis Al-Nasser.
Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg entschuldigte sich für die Beteiligung von Landsleuten an der Judenvernichtung. Als erster Regierungschef seines Landes bezog er sich dabei ausdrücklich darauf, dass norwegische Polizisten und andere Bürger den deutschen Besatzern bei der Deportation von Juden geholfen hatten.
Ausgerechnet am Gedenktag nahm der Neonazi-Untersuchungsausschuss des Bundestag seine Arbeit auf. Am Vortag hatte auch der Thüringer Landtag einen Untersuchungsausschuss beschlossen. Geklärt werden soll, warum die Zwickauer Neonazi-Gruppe jahrelang rauben und morden konnte, ohne von Sicherheitsbehörden entdeckt zu werden. Auf ihr Konto sollen unter anderem Morde an neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie an einer Polizistin gehen.
Die Linken-Abgeordnete und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau sagte, sie hätte sich nicht träumen lassen, sich am Gedenktag Auschwitz einmal mit Neonazimorden befassen zu müssen. Ähnlich äußerten sich Grünen-Spitzenpolitiker. Grünen-Chefin Claudia Roth sagte der Nachrichtenagentur dpa, die Konstituierung des Neonazi-Untersuchungsausschusses am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz unterstreiche die Wichtigkeit seines Auftrags.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte zuvor bei der Gedenkfeier im Parlament Bürger gewürdigt, die sich gegen Rechtsextremismus und Neonazi-Umtriebe engagieren. „Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und Mut machen“, sagte er. Mit Blick auf die im vergangenen Herbst aufgedeckte Neonazi-Mordserie sagte Lammert, diese Gewalt und dieser Hass seien nicht zu akzeptieren. Er wies auch darauf hin, dass nach aktuellen Untersuchungen 20 Prozent der Bundesbürger latent antisemitisch eingestellt seien. „Das sind in Deutschland genau 20 Prozent zu viel.“ Auch der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider beklagte, dass neonazistisches Gedankengut in der Gesellschaft verbreitet sei.