Report: Der unauffällige Terrorist aus dem ersten Stock links
Saint-Quentin Fallavier (dpa) - Das Industriegebiet von Saint-Quentin Fallavier im Süden von Lyon ist nicht hässlicher als andere.
Wenn man an Speditionen, Lagerhäusern und Speditionsparkplätzen vorbeischaut, sieht man durch die heiße, flirrende Luft in der Ferne sogar die schneebedeckte Bergkette der französischen Alpen. Das Unternehmen Air Products hingegen, wo ein 35 Jahre alter Mann den enthaupteten Kopf seines Chefs auf den Firmenzaun steckte und zwei islamistische Fahnen darum herum drapierte, sieht keiner der vielen Journalisten. Dieses Firmengelände ist von der Polizei weiträumig abgeriegelt.
Nur 15 Autominuten entfernt, im Ort Saint-Priest, herrscht fast eine mediterrane Urlaubsatmosphäre - nur dass es hier vor allem in der Rue Alfred de Vigny an unbekümmerter Fröhlichkeit mangelt. Junge und alte Einwohner haben Unterschlupf im Schatten ausladender und wohlriechender Bäume gesucht. Sie erzählen den Reportern in nur geringfügig unterschiedlichen Varianten, dass eigentlich niemand die Leute aus dem ersten Stock gleich links neben dem Eingang von Haus Nummer 43 - einem vierstöckigen sorgfältig geweißelten Plattenbau - wirklich gekannt hat.
Hier lebte der Mann, der Frankreich mit seinem Anschlag auf das Werk des US-Gasherstellers Air Products in Angst und Schrecken versetzte. In stundenlangen Sondersendungen des Rundfunks und auch in den Reaktionen der Politiker wurden immer wieder Erinnerungen an den Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ vom Januar geweckt.
Mit dem Auto war er in Dutzende gestapelter Gasflaschen gefahren, die dann explodierten. Seinem Chef hatte er den Kopf abgetrennt und auch darauf noch islamische Wörter geschrieben. Durch einen beherzten Feuerwehrmann wurde er außer Gefecht gesetzt und daran gehindert, weiteren Schaden anzurichten. Der Ort entging angesichts der vielen dort produzierten giftigen Gase - das Gelände ist in der sogenannten Seveso-Kategorie klassifiziert und bedarf besonderen Schutzes - nur mit Glück einer größeren Katastrophe, sagte der Staatsanwalt am Freitagabend.
In Saint-Priest hat sich das niemand vorstellen können. Hinter den heruntergelassenen weißen Rollläden, hinter denen jetzt die Spurensicherer am Werke sind und kisten- und tütenweise Dinge beschlagnahmen, wohnte eine ganz normale, freundliche Familie. Den Mann mit dem eindrucksvollen Vollbart sahen die Nachbarn kaum: „Der hat viel gearbeitet“, sagt die Nachbarin, die im dritten Stock wohnt und ihren Namen nicht sagen möchte. „Und die Frau war sehr nett.“ Auch die Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen zwischen 9 und 12 Jahren, gaben in dem Quartier keinen Grund zur Klage. Aber mehr wissen auch die anderen Nachbarn nicht: „Man hat halt Guten Tag, wie geht's und Aufwiedersehen gesagt.“ Die Leute aus dem ersten Stock waren erst vor sieben Monaten eingezogen. Und sie waren eine sehr ruhige Familie. „Die sind niemandem aufgefallen.“
Erst am Abend verlässt ein Trupp Polizisten mit verschiedenen Säcken die Wohnung. Die Beamten rahmen eine schlanke mittelgroße Frau ein, deren Gestalt unter einem hellen Tuch verhüllt ist. „Das ist die Ehefrau“, sagt die Frau aus dem dritten Stock. Da ist sie ganz sicher. Auch die Schwester des Mannes wurde von der Polizei mitgenommen.
Auf dem Werksgelände ist auch die Spurensicherung tätig. Männer in weißen Schutzanzügen passieren die Absperrungen, Mitarbeiter einer psychologischen Eingreifgruppe kümmern sich um das seelische Gleichgewicht der geschockten Mitarbeiter von Air Products. Der Täter wurde dort mit seinem Kleintransporter problemlos eingelassen, weil er dort als Lieferfahrer bekannt ist. „Wir fürchten, dass man jetzt wieder alle Muslime dafür verantwortlich macht“, sagt eine andere Frau in der Rue Alfred de Vigny. „Und dass wir noch häufiger als bisher beschimpft und angegriffen werden.“ Ein Mordanschlag am Freitag im heiligen Monat Ramadan - die Frau schüttelt den Kopf: „Das kann doch kein gläubiger Mensch sein.“