Report: „Nacht der Wahrheit“ für Hallig Langeneß
Langeneß/Hooge (dpa) - Fast bis zum Hals stand Fiede Nissen 1962 das Wasser. Die Nordsee hatte sturmgepeitscht die flache Hallig Langeneß und auch die erhöhten Warften mit den Häusern erobert.
„Plötzlich drückten Wassermassen durch die berstenden Glasscheiben, im Nu war unsere beste Stube voll Wasser“, erinnert sich Nissen an die legendäre Sturmflut von 1962. Er war damals 13 Jahre alt. „Jetzt hoffe ich, dass der Orkan "Xaver" dieselbe, aber inzwischen zweimal erhöhte Warft nicht schafft.“
Seit Donnerstagnachmittag flutet „Xaver“ Langeneß, die größte der zehn nordfriesischen Halligen vor Schleswig-Holstein. „Eigentlich ist "Land unter" nichts Außergewöhnliches, die Menschen auf der Hallig kennen das - oft mehrmals im Jahr“, ruft Nissen beim Rundgang um die Warft. Der 64-Jährige muss fast schreien, der Sturm bläst lautstark und nimmt die Luft zum Atmen.
Nah am Strand liegt - noch erstaunlich ruhig - Nissens Postboot „Störtebekker“, mit zwei Ankern gesichert. Einmal, in den 90er Jahren, hatte eine Flut Nissens Schiff weit an Land geschwemmt. Seit 36 Jahren holt und bringt Nissen die Post zu vier Halligen. Am Donnerstag fuhr er nicht wegen des heftigen Sturms, „vom Wasser her wäre es noch möglich gewesen“.
Mit dem Auto geht es gerade noch über die einzige Verbindungsstraße auf der zehn Kilometer langen Hallig ohne Ampeln zum Hotel „Anker's Hörn“. Nissen drängt: „Ist noch viel zu tun...“. Dachpfannen hat er bereits genagelt, die Fahnenstange mit straffen Seilen gesichert. Schotten will er noch an Fenster und Türen befestigen und Wellenabweiser auf der 5,80 Meter Warft so errichten, dass Nordseewasser parallel zum Haus abfließen kann. „In der kommenden Nacht werden meine Frau und ich kein Auge zumachen, wie vermutlich keiner der Bewohner auf den Halligen.“
In „Anker's Hörn“, dem gemütlichen kleinen Hotel, sitzen einige Touristen - mit freiem Blick auf die sich lautstark nähernde See. „Ich wohne in der Großstadt, es ist irgendwie faszinierend, den Naturgewalten einmal ausgeliefert zu sein“, sagt Marie Haas (30). Die Bremerin fühlt sich mehr entspannt als angespannt. Ihrem Verlobten Hannes Schmidt (31) ist „eher ein bisschen mulmig, jetzt, wo das Wasser mehr und mehr steigen soll“. Beide sind zum ersten Mal auf einer Hallig.
Gelassen, aber doch mit Anspannung betrachtet Hotelier Malte Karau (36) das steigende Wasser. Nur einmal, in den 90er Jahren, hatte die Nordsee an die Hoteltüren gepocht. Sandsäcke, Schotten, Wasserabweiser - auch Karau hat alles getan, damit Schäden gering bleiben. „Eine Versicherung gegen Sturmflutschäden bekommen Sie bei keiner Versicherung!“ sagt Karau. Gegen Sturm ist er versichert, „und eine Versicherung gegen Elementarschäden deckt zwar auch Wasserschäden ab - aber nur Süßwasser, nicht Salzwasser.“
Für die Bewohner auf der Hallig geht es um die Existenz. Um Hab' und Gut. „Ums Leben gekommen ist bei einer Sturmflut auf Langeneß noch niemand“, erzählt Karau. Wegen des Orkans leidet zwangsweise das Geschäft. Weil am Donnerstag und Freitag die Fähren eingestellt sind, haben sechs Gäste abgesagt. Auch wenn die Anwesenden aus ihrer Warte vom Schauspiel der Naturgewalten schwärmen, meint der Hotelier, der mit seiner Frau Virginia drei Mädchen hat: „Damit können und wollen wir nicht werben, wir machen doch keinen Katastrophen-Tourismus.“
Die sturmgepeitschten Wellen schlagen nur noch wenige Meter vom Hotel entfernt gegen die Warft. Gegenüber, vielleicht einen Kilometer entfernt, behauptet sich eine andere Warft wie eine Trutzburg, umringt von hohen Wellen mitten im tosenden Meer - wenige Stunden zuvor lag zwischen beiden Warften noch Grünland.
Regen und Gischt vermischen sich über den Wellen als wäre es Nebel. Dutzende Möwen, in einer Reihe nebeneinander am Saum der Warft, suchen noch Boden unter den Füßen.
„Die Nacht der Wahrheit kommt noch“, sagt Nissen. „Nein, so etwas wie 1962 möchte ich - auch wenn die Sturmflut mindestens genauso stark sein soll - nicht noch einmal erleben“, sagt Nissen. Die Warften sind inzwischen erhöht worden. „Das Land hat sehr geholfen in den Jahrzehnten danach. Jetzt ist es notwendig, für die nächsten 50 Jahre neue Schutzmaßnahmen zu planen, denn der Meeresspiegel wird ja wegen des Klimawandels weiter steigen.“