Report: Steine, Knüppel und Feuer gegen Janukowitsch

Kiew (dpa) - Rußschwarz und voll lodernder Feuerstellen ist die „Hölle“ bei den Protesten gegen die prorussische Führung in Kiew. Flammen schlagen aus Haufen brennender Autoreifen. Rauch, Ruß und Asche schwärzen den vereisten Boden auf der Gruschewski-Straße.

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Die Brandspuren ziehen sich über das Eingangsportal am Dynamo-Stadion. Nach der sommerlichen Fußball-Europameisterschaft von 2012 mit Gästen aus aller Welt brennt hier nun das Feuer der Revolution gegen Präsident Viktor Janukowitsch am heftigsten.

„Slawa Ukraine!“ - Ruhm der Ukraine! - ertönt immer wieder der Schlachtruf der Demonstranten. Ein Vermummter füllt in Bier- und Wodkaflaschen Benzin ab - um daraus brennende Wurfgeschosse zu machen. Unversöhnlich stehen die Regierungsgegner mit ihren Knüppeln und Brecheisen starken Sicherheitskräften gegenüber. Die Uniformierten sind in Stellung in einem Park vor dem Präsidentensitz. In der Wintersonne blitzen ihre Schutzschilde. Sie wappnen sich gegen eine Erstürmung der Machtzentrale.

Die Zufahrtstraßen zum Regierungsviertel haben Milizionäre oder Angehörige der Anti-Terror-Einheiten Berkut (Steinadler) mit Kamaz-Lastwagen blockiert. Ein brenzliger Geruch zieht durch die Straßen, ätzt sich in die Sachen - und in die Lungen derer, die schon seit Wochen auf maximale Konfrontation gehen.

Pflastersteine fliegen in Richtung der Uniformierten. Auch an diesem eisigen Wintertag sind bei um die 15 Grad minus Leute mit Spitzhacken am Werk. Am Europaplatz, der Einmündung zur Gruschewski-Straße, reißen sie die Wurfgeschosse aus dem gefrorenen Straßenpflaster. Alte und Junge in dicken Wintersachen schlagen mit Stöcken auf Tonnen. Das Getrommel ist der Rhythmus der Revolution gegen Janukowitsch.

Tritt der Staatschef nicht ab, will an der Front keiner Gewalt ausschließen. „Ich bleibe bis zum Sieg“, sagt der Geschichtslehrer Michail Gurik aus Ternopol. Der 37-Jährige ist seit einigen Tagen hier. „Weil erstmals auf Demonstranten geschossen wurde“, sagt er. An die Toten Sergej Nigojan (20) und Michail Schisnewski (25) erinnern an vielen Stellen Fotos, Kerzen und Traueranzeigen. „Janukowitsch hat dem Volk den Krieg erklärt“, sagt Gurik.

Warum er hier ist? Er wolle auch eines Tages leben wie andere Europäer. „Meine Frau ist Philosophie-Professorin. Sie verdient nur 4000 Griwna im Monat“, erzählt er. Das sind umgerechnet rund 350 Euro - viel mehr als der Durchschnittslohn in dem Land mit rund 45 Millionen Einwohnern. Und doch nicht genug. Gurik wehrt sich gegen den Eindruck, dass nur rechte Schläger und gewaltbereite Nationalisten gegen Janukowitsch vorgingen. Dass die Regierung die Freiheitskämpfer Terroristen nennt, trifft ihn tief.

Es sind Tausende in der Protestzone in Kiew, die sich betrogen sehen um eine mögliche Zukunft in der EU. Der Westen hat der Ex-Sowjetrepublik diese Partnerschaft angeboten. Doch Janukowitsch orientiert sich lieber nach Russland - Kremlchef Wladimir Putin stützt diese Abkehr vom EU-Kurs mit Milliardenhilfen. Die Proteste sind nicht zuletzt die Antwort auf diese Politik.

Immer neue Reifen und Steine schleppen die Demonstranten in den Kessel. Einige suchen Deckung hinter den Skeletten ausgebrannter Polizeibusse - vor möglichen Schüssen der Milizionäre.

Bewohner der Häuserzeile im „Kampfgebiet“ erinnern auf weißen Bannern mit roter Schrift an ihren Balkonen und Fenstern daran, dass hier Menschen wohnen. „Egal, wer bei uns an der Macht ist, es wird doch immer geklaut“, sagt ein wütender Passant. Der Aufstand aber beginnt gerade erst so richtig.

Täglich türmen die Regierungsgegner an den Zufahrtsstraßen zum Protestviertel und den Wegen zum Prachtboulevard Kreschtschatik neue mit Eis und Schnee gefüllte Säcke auf. Schnee, gefrorenes Wasser, Metallpfeiler und Holz geben den Bollwerken zusätzlichen Halt. Wie Termitenhügel wachsen die Trutzburgen. Die Demonstranten besetzen immer mehr öffentliche Gebäude - als Lager zum Aufwärmen, Essen, Ausruhen und Waschen.

Im Ukrainischen Haus am Europaplatz, dem markanten Ausstellungs- und Kongresszentrum - zu Sowjetzeiten das Leninmuseum - sind die zertrümmerten Glasscheiben mit Brettern und Pappe abgedichtet. Vermummte tragen Decken und dicke Jacken in das neue Lager. „Trinken Sie warmen Tee!“, rufen Frauen. Sie haben Käse, Brot und Kekse mitgebracht. „Es gibt auch warme Kartoffeln“, sagt eine Rentnerin.

Mehrere Ministerien sind schon in der Gewalt der Regierungsgegner. Der Widerstand gegen die heraufziehende „Diktatur“ wächst, wie die größer werdenden Barrikaden zeigen. Sie sollen eine Erstürmung des Maidan - der zentrale Unabhängigkeitsplatz und das Herz der Proteste - verhindern. Passanten kommen nur noch durch dünne Schlupflöcher in die vielleicht einen Kilometer lange und einhundert Meter breite Protestzone. Außerhalb des Zentrums geht das Leben weiter wie immer.

Am Maidan versammeln sich die friedlichen Demonstranten bei melancholischer Musik. Vor einer Bühne und Großbildschirmen hören die Wartenden Boxchampion Vitali Klitschko, dem Ex-Parlamentschef Arseni Jazenjuk und anderen Anführern der zersplitterten Opposition zu. Vielen hier geht es mit der Revolution nicht schnell genug. Auch deshalb gibt es für Klitschko & Co bisweilen Buhrufe.

„Wissen Sie, ich habe nichts zu verlieren. Ich bin aus dem Kiewer Gebiet gekommen, um zu kämpfen - und nicht, um mir Reden anzuhören“, sagt ein 25-Jähriger. Wenn Klitschko, Jazenjuk und die anderen reden, strömen die Menschen auch spät nachts zu Tausenden auf den Platz, um in dem Chaos aus Gerüchten echte Neuigkeiten zu hören. Die beiden prominenten Oppositionsführer gehören zu dem engen Kreis derer, die mit Janukowitsch immer wieder direkt verhandeln.

Doch der Maidan ist längst gespalten. Die einen wollen einen friedlichen Ausweg, die anderen lehnen Gespräche mit Janukowitsch ab. Jeder ist aber erleichtert, als Klitschko und Jazenjuk nicht auf Janukowitschs Angebot einer Mitarbeit in der Regierung eingehen. Das wäre Verrat an den Zielen des Maidan, der sich schon 2004 gegen Janukowitsch formierte.

Die Anführerin der prowestlichen und friedlichen Orangenen Revolution von damals, Julia Timoschenko, „wacht“ wie eine Ikone über dem Platz. Ein riesiges Porträt der inhaftierten Politikerin hängt am zentralen Protestmonument. Demonstranten haben den Weihnachtsbaum der Stadt umfunktioniert zu einem Kegel mit politischen Plakaten. Das Bild der 52-Jährigen hängt auch an vielen Protestzelten am Maidan.

Die Feindbilder dagegen tragen männliche Züge: Janukowitsch und sein Regierungschef Nikolai Asarow sitzen auf einer Fotomontage hinter Gittern. Eine riesige Karikatur zeigt einen nackten Janukowitsch mit einem kleinen Putin im Nacken. An anderer Stelle ist der frühere Geheimdienstchef und einstige KGB-Offizier Putin großflächig als Teufel abgebildet.

Auf der Straße ist immer wieder zu hören, dass die Revolution eigentlich in Moskau passieren müsste. Viele sehen den Druck der russischen Führung auf die Ukraine als einen Hauptgrund für immer neue Krisen in der Ex-Sowjetrepublik. „Die Proteste richten sich nicht gegen Russen, aber gegen Putin und sein Vormachtstreben im postsowjetischen Raum“, sagt der 32-Jährige Alexander Daniljuk.

Dutzende verschiedene Gruppen richten sich in der Protestzone ein. Im Gewerkschaftshaus am Maidan, dem Stab der Opposition, treten Sprecher der einzelnen Bewegungen in einem Medienzentrum auf. In einem großen Kinosaal ruhen sich „Aufständische“ des „12. Bataillons der Selbstverteidigung“ auf Iso-Matten und in Schlafsäcken aus. Viele tragen blau-gelbe Ukraine-Fahne als Umhang.

Toiletten, wenn sie überhaupt noch funktionieren, dienen auch als Waschräume zum Zähneputzen. Das Gewerkschaftshaus ist auch ein Ort des Austauschens, eine Informationsbörse, um die vielen wilden Gerüchte von Verschwundenen und noch mehr Toten zu hinterfragen. In einer der oberen Etagen hat sich der Rechte Sektor verschanzt, eine Bewegung von Ultranationalisten, die sich auch gegen die Öffentlichkeit abschirmt.

Im dritten Stock des Hochhauses liegt die größte von inzwischen mehreren Krankenstationen der Protestzone. Kaum können die Helfer in den schmalen Gängen die Lawine der Kisten und Säcke mit Medikamenten und Verbandszeug bewältigen. „Viele helfen uns“, sagt Stationssprecher Swjatoslaw Chanenko. Die Ärzte müssten nach Tränengaseinsätzen vor allem Augenverletzungen, aber auch Gestürzte oder Leute mit Erfrierungen behandeln.

Schwere Fälle kommen in Krankenhäuser. „Wir bitten dort die Ärzte, die Verletzten nicht zu melden, damit sie nicht festgenommen werden. Zudem haben wir inzwischen an Krankenbetten Wachpersonal stationiert, damit niemand abgeführt wird und in Haft kommt“, sagt Chanenko. Die Ärzte und Krankenpfleger stellen sich auf einen langen Kampf ein. „Wir sind im Krieg“, sagt eine Schwester.

Auf dem Maidan zimmern unterdessen immer mehr Janukowitsch-Gegner Baracken aus Holz oder stellen Zelte, Kanonenöfen und Feldküchen auf. Sie tragen Wollmasken, um sich vor dem Frost zu schützen und nicht erkannt zu werden. Mit Stahl- oder Motorradhelmen schützen sie ihre Köpfe. Manche tragen auch Gasmasken und Tarnuniformen. Die Staatsmacht hat das Herz der Stadt den Regierungsgegnern überlassen.

Der Kreschtschatik mit seiner monumentalen sowjetischen Architektur und den kaum noch besuchten Luxusboutiquen entwickelt mehr und mehr sein Eigenleben - abgeschottet vom übrigen und ganz normalen Leben der Hauptstadt. Autofahrer schimpfen vor der Großbarrikade an der Bogdan-Chmelnizki-Straße, weil in der Innenstadt kein Durchkommen mehr ist. An diesem Grenzpunkt steht ein großer Gitterkäfig mit einer Janukowitsch-Puppe im Häftlingsanzug. Es ist ein Symbol für die Hoffnung, dass die Revolution siegen kann.