Report: „Tag der offenen Tür“ in Janukowitschs Palast

Kiew (dpa) - Dieser „Tag der offenen Tür“ sprengt selbst die kühnsten Erwartungen der Ukrainer. Edle Möbel, teure Oldtimer, exotische Tiere - überwältigt vom Glanz und Protz durchstreifen Tausende die Residenz Meschigorje des abgesetzten Präsidenten Viktor Janukowitsch.

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Sie durchstöbern die Schränke, fotografieren seine roten Unterhosen. „Witja hat bei der Flucht seine Brille vergessen“, schreibt ein Schaulustiger spöttisch zu einem Bild aus dem sonst immer hermetisch abgeschotteten Anwesen.

Hals über Kopf muss Janukowitsch in der Nacht zum Samstag Meschigorje verlassen haben. Einige Wachen, die geblieben sind, erzählen, dass mehrere gepanzerte Fahrzeuge in hohem Tempo aus der Einfahrt schossen, die ein schmiedeeisernes Tor im Stile einer Zarenresidenz schützt. Dutzende Spezialkräfte und Leibwächter haben bisher jeden Blick auf Janukowitschs Villa verhindert.

Nun aber öffnen die neuen Herren aus den Reihen der oppositionellen Selbstverteidigungskräfte die Tore. Und die Kiewer strömen in Scharen herbei. Kilometerweit staut sich am Sonntag der Verkehr zu der Residenz, keine 20 Kilometer nördlich der Hauptstadt.

Der Fuhrpark Janukowitschs erinnert an die Ausstattung eines arabischen Scheichs - oder auch an ein Museum. Kaum ein Modell, das es nicht gibt. Einen seltenen Luxuswagen vom Typ Horch soll Janukowitsch noch mitgenommen haben. Vor den Autos und Motorrädern stehen Erklärungstafeln. Und wenn es einmal ein Ausflug auf dem Wasser sein sollte? Dafür standen in einer riesigen Halle mehrere Möglichkeiten bereit - von der riesigen Jacht bis zum spritzigen Motorboot. Ein großes Segelschiff auf einem See dient als Restaurant.

Schon seit Jahren werfen Kritiker dem geflohenen Staatschef, seinen Söhnen und Vertrauten - der sogenannten „Familie“ - Korruption und Vetternwirtschaft vor. Beim Blick auf das eigene Gewächshaus, die palastartigen Säle sowie den Privatzoo mit Straußen, Pfauen und Antilopen sehen sich viele Ukrainer bestätigt. Auf dem gutseigenen Golfplatz schwingen behelmte Barrikadenkämpfer lachend den Schläger. Familien posieren fürs Privatalbum.

Doch die Schaulustigen, darunter viele Journalisten, finden noch mehr. Aus einem See fischen sie Dokumente, die offenbar eilig vernichtet werden sollten, und trocknen sie in einer Halle. Es sind Listen über horrende Ausgaben, viele sechsstellige Euro-Beträge sind aufgeführt - offenbar für Renovierungen und Angestellte.

Aber es sind anscheinend auch Dokumente über Personen zu finden, die Janukowitsch als seine Gegner betrachtet. So soll der Name von Tatjana Tschornowol auf einer Schwarzen Liste von Reportern stehen. Unbekannte hatten die investigative Journalistin Ende Dezember massiv verprügelt und lebensgefährlich verletzt. Tschornowol wirft Janukowitsch vor, hinter der brutalen Attacke zu stecken.

Während die Menge in Meschigorje ihren Augen nicht traut, liegen in Kiew Tränen und Siegesfeiern nur wenige Hundert Meter auseinander. Stolz ziehen Kämpfer der Opposition durch das Regierungsviertel. Zum Schutz vor Übergriffen auf das Parlament bilden sie einen Wall mit Schilden. Das Signal: Alles läuft geordnet, ohne Chaos.

Am Samstagabend kommt es zum Höhepunkt dieser Revolution: Nach einer ergreifenden Trauerzeremonie für die Dutzenden Toten der vergangenen Tage wird Oppositionsführerin Julia Timoschenko in einem Rollstuhl auf die Bühne gezogen. Eben aus umstrittener Haft entlassen, nimmt sie mit einer ergreifenden Rede die Menge für sich ein.

Allerdings weigert sich ihr Erzfeind Janukowitsch bisher, zurückzutreten. Das ist sein Recht. Doch es wirkt, als klammere er sich an sein Amt. Denn die Realität überrollt ihn. Fast im Minutentakt verlassen Mitglieder der Regierungspartei die Fraktion. Polizei, Armee, Spezialeinheiten versprechen, sich nicht in den Machtkampf einzuschalten. Janukowitsch hat kaum noch Verbündete. Der einst mächtigste Mann des Landes hat alle Macht verloren.

In Kiew übernimmt derweil das Volk die Stadt. Auf dem Weg zum Regierungsviertel markieren rote Nelken die Spur des Bluts. Unbekannte Scharfschützen hatten hier gezielt auf Menschen geschossen. Vor dem Präsidentensitz steht eine metallene Absperrung in den blau-gelben Landesfarben. Dahinter haben sich Mitglieder der sogenannten Selbstverteidigungskräfte mit Schilden und Helmen aufgebaut. Eine ältere Frau sagt stolz: „Alles unsere Jungs“. Die Kämpfer grinsen und schieben den Helm noch ein Stück in den Nacken.