Rot-Grün sieht Chance für Machtwechsel im Bund
Berlin/Düsseldorf (dpa) - Der Triumph in Nordrhein-Westfalen beflügelt rot-grüne Hoffnungen auf einen Machtwechsel im Bund - doch Kanzlerin Angela Merkel gibt sich trotz des CDU-Desasters gelassen. Wahlverlierer Norbert Röttgen kommt auch in der Union unter Druck, aber Merkel behält ihn als Umweltminister.
Schwarz-Gelb im Bund rückt angesichts der Herausforderung durch SPD und Grüne zusammen. Nur vereinzelt gab es am Montag aus der FDP Rufe nach Koalitionsoptionen jenseits der Union. In Nordrhein-Westfalen wollen SPD und Grüne rasch über eine Koalition verhandeln. Der SPD-Landesvorstand beschloss am Abend einstimmig, Verhandlungen mit dem bisherigen Koalitionspartner aufzunehmen.
CDU-Chefin Merkel sprach von einer bitteren Niederlage für ihre Partei. Der Bundestagswahl 2013 sehe sie aber „sehr gelassen entgegen“. Im Bund seien die Gemeinsamkeiten mit der FDP weiterhin am größten. Die Koalition müsse nun vernünftige Regierungsarbeit machen und Projekte wie die Energiewende, das Betreuungsgeld oder die Europapolitik angehen.
Fast alle Parteien stehen nach der Landtagswahl vor schwierigen Personaldebatten: Bei der SPD dürfte Wahlsiegerin Hannelore Kraft eine Rolle in der Kanzlerkandidaten-Debatte spielen. In der FDP kann Parteichef Philipp Rösler vorläufig aufatmen - ob er seine Partei in den Wahlkampf 2013 führen wird, ist aber offen. Bei der Linkspartei signalisierte Oskar Lafontaine nach der Wahlpleite vom Sonntag die Bereitschaft, für den Bundesvorsitz zu kandidieren. Er erhielt dafür Unterstützung vom amtierenden Parteichef Klaus Ernst.
Nach Ansicht von SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die Landtagswahl das politische Klima hin zu Rot-Grün verändert. Wahlgewinnerin Kraft forderte, Verlässlichkeit müsse zum SPD-Markenzeichen werden. Generalsekretärin Andrea Nahles kündigte an, die SPD werde im Schulterschluss mit den Grünen für einen Machtwechsel kämpfen.
Die Grünen wollen aus dem Erfolg in NRW eine Initialzündung für Rot-Grün im Bund machen. Parteichefin Claudia Roth sagte: „Was in Nordrhein-Westfalen möglich ist, dass es zu Zweierkonstellationen kommt, zu rot-grünen Bündnissen - warum soll das nicht auch im Bund möglich sein?“
Gabriel und Bundestagsfraktionschef Frank-Walter Steinmeier halten am Fahrplan für die SPD-Kanzlerkandidatenkür mit einer Entscheidung spätestens Anfang 2013 fest. Gabriel rechnet nicht mit Krafts Kandidatur: „Wer sie kennt, weiß, dass sie das nicht machen wird. Trotzdem ist sie mit so einem Ergebnis eine unglaublich wichtige Spitzenpolitikerin, auch für alles, was in Berlin passiert.“
Kraft sagte in der ZDF-Sendung „Was nun, Frau Kraft?“, die am Abend ausgestrahlt werden sollte: „Ich bleibe in Nordrhein-Westfalen, bin trotzdem in der Bundes-SPD mit dabei und versuche dort auch wichtige Kurse zu setzen und unsere Erfahrung einzubringen.“ Auf die Frage, ob sie auch den Hut für die Kanzlerkandidatur in den Ring werfen wolle, antwortete sie ausweichend: „Es geht jetzt um Inhalte, und Personalentscheidungen lenken aus meiner Sicht nur ab. Wir müssen rechtzeitig vor der Wahl entscheiden, und das werden wir tun.“
Merkel reagierte kühl auf die CSU-Forderung nach einem Treffen der schwarz-gelben Parteichefs. „Sollte es sowas geben“, werde die Öffentlichkeit rechtzeitig informiert. Auf die Frage, wann Seehofer nach seiner Drohung mit einem Fernbleiben vom Koalitionsausschuss wieder mit ihr sprechen werde, sagte sie: „Dann, wann es sich als notwendig erweist.“ Das gelte auch umgekehrt. Seehofer ist ungehalten über die Kritik an seinem Lieblingsprojekt Betreuungsgeld.
Seehofer hatte für Ärger in der CDU gesorgt, indem er in der „Bild“-Zeitung indirekt Röttgens Eignung als Umweltminister infrage stellte. „Die Menschen wollen endlich Antworten hören, wie es mit der Energiewende weitergehen soll, und sie wollen sehen, dass wir aufs Tempo drücken. Ich hoffe, dass der Bundesumweltminister mit dieser Herausforderung anders umgeht als mit dem Wahlkampf in NRW.“
FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle, der als starker Mann in seiner Partei gilt, sieht Schwarz-Gelb im Bund nicht geschwächt. Union und FDP hätten beste Voraussetzungen, 2013 das bürgerliche Lager wieder zum Erfolg zu führen. FDP-Vize und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger forderte dagegen: „Die FDP muss sehen, dass sie sich mehrere Optionen erarbeitet.“ Parteichef Rösler kritisierte: „All das Linksblinken, das Grünblinken der Union hat im Ergebnis keinen Erfolg gebracht.“
FDP-Wahlsieger Christian Lindner wies bundespolitische Ambitionen erneut zurück. Er unterstrich: „Philipp Rösler und ich haben ein ordentliches Verhältnis, das ist kein Geheimnis.“ Lindner war vor fünf Monaten als Generalsekretär der Bundespartei zurückgetreten. Rösler betonte, Lindner werde als Landes- und Fraktionschef in NRW eine wichtige Rolle in der Bundespartei spielen. Der Kieler FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki sagte über Lindner: „Er ist die Zukunft, ich bin die Vergangenheit.“
Die Piratenpartei mahnte ihre Anhänger zur Vorsicht bei Prognosen für die Bundestagswahl. Bundesvorstandsmitglied Julia Schramm sagte, Spekulationen über den Einzug in den Bundestag seien verfrüht.
Bei der Abstimmung im bevölkerungsreichsten Bundesland sicherten sich SPD (39,1 Prozent) und Grüne (11,3) nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis eine klare Mehrheit. Bisher hatte es nur für eine Minderheitsregierung gereicht. Die CDU (26,3) stürzte auf ein Rekordtief im Land. Die bundesweit schwächelnde FDP (8,6) blieb gestärkt im Landtag. Die Linke (2,5) scheiterte klar an der Fünf-Prozent-Hürde. Der Piratenpartei (7,8) gelang der Sprung ins vierte Landesparlament. Rot-Grün hat damit eine Mehrheit von 128 Sitzen gegen 109 der Opposition.