Nach Berlin-Anschlag „Sehnsucht nach dem Guten“: Ist Lukasz U. ein Held?

Berlin (dpa) - Die letzten Stunden, die letzten Minuten im Leben des Lukasz U. müssen schrecklich gewesen sein. Der 37-jährige polnische Lkw-Fahrer war das erste Opfer des Terroristen Anis Amri, der am 19. Dezember U.'s Laster gekapert, in den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gesteuert und dabei weitere elf Menschen getötet haben soll.

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Viele Fragen ranken sich seither um das Schicksal des Familienvaters aus der Nähe von Stettin (Szczecin), der wohl allein deshalb in den Horror geriet, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Was passierte genau im Fahrerhaus? Hat der Pole mit dem Angreifer gekämpft? Ist Lukasz U. ein Held, weil er womöglich noch Schlimmeres verhinderte? Eineinhalb Wochen nach dem Anschlag stehen viele Antworten aus. Auch für die Angehörigen, die den auf Fotos so gutmütig wirkenden Mann an diesem Freitag zu Grabe tragen werden. Kollegen wollen ihm mit einem Lkw-Konvoi das letzte Geleit geben.

Klar ist, dass U. am 19. Dezember aus Italien kommend in Berlin eintraf, um im Stadtteil Moabit Baustahl abzuladen. Weil sich das verzögerte, stellte er seinen Truck auf einem Stellplatz vor einer Firma ab, Fotos einer Überwachungskamera sollen ihn in einem Imbiss zeigen. Gegen 16.00 Uhr, so schilderte es später U.'s Cousin und Spediteur Ariel Zurawski, hatte seine Frau letztmalig Kontakt zu ihm.

Was dann geschah, ist nur lückenhaft bekannt. Ermittler halten sich bedeckt. „Die Leiche des Lkw-Fahrers wies eine Schussverletzung auf. Die Spurenlage deutet darauf hin, dass es einen Kampf zwischen Täter und Opfer gegeben haben könnte“, schilderte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) am 23. Dezember im Innenausschuss den Erkenntnisstand zu dem Zeitpunkt. „Aufgrund dieses Kampfgeschehens“ sei es wahrscheinlich, dass der polnische Lkw-Fahrer „in das Geschehen eingegriffen“ habe.

Hat Lukasz U. also vom Beifahrersitz aus das Steuer herumgerissen, als der Attentäter um 20.02 Uhr in den Weihachtsmarkt raste? Und so dafür gesorgt, dass der Laster nach rund 80 Metern Fahrt auf einer Marktgasse ausscherte, Buden durchbrach und auf einer benachbarten Straße zum Stehen kam? Hat er so Dutzende Menschenleben gerettet?

Nach Informationen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR aus Ermittlerkreisen kam der Lkw nur deshalb nach 70 bis 80 Metern zum Stehen, weil die Zugmaschine mit einer Bremsautomatik ausgerüstet war. Diese reagiert demnach auf einen Aufprall und betätigt von selbst die Bremsen. Diese Technik habe nach Angaben aus Berliner Regierungskreisen Leben gerettet, so „SZ“, WDR und NDR.

Neue Details aus dem - offiziell nicht veröffentlichten - Obduktionsbericht sprechen zudem nach Recherchen der „Bild“ gegen die Annahme, die lange kursierte. U. soll demnach schon zwischen 16.30 und 17.30 Uhr einen Kopfschuss bekommen und viel Blut verloren haben. Also wohl noch auf dem Parkplatz, fünf Kilometer vom Anschlagsort entfernt. Zum Zeitpunkt des Terroranschlags könnte er danach zwar noch gelebt, aber wohl kaum bewusst ins Geschehen eingegriffen haben.

Unabhängig von den Details rührt das Schicksal des Truckers nicht nur in seiner Heimat viele Menschen. Für viele Polen ist und bleibt er ein Held. So schrieb das Internetportal „Fakt24“ am Mittwoch vom „Heldenfahrer“: „Der Tod von Lukasz U. hat das ganze Land erschüttert.“ Im Internet unterschrieben bislang fast 40 000 Menschen eine Petition mit dem Ziel, ihm wegen seines „heldenhaften Handelns“ das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. In Großbritannien hat ein Trucker eine Spendensammlung für die Familie initiiert, bei der bis Mittwoch mehr als 200 000 Euro zugesagt wurden. Cousin Zurawski bedankte sich bei Facebook für die vielen Beileidsbekundungen aus aller Welt. Bilder zeigten Kondolenzschreiben aus Deutschland.

Taugt Lukasz U. zum modernen Helden? Durchaus, wie Fachleute meinen. Nach Einschätzung des Berliner Sozialpsychologen Dieter Rucht ist die Debatte um den Lkw-Fahrer Ausdruck einer „Sehnsucht nach einem Gegenentwurf, um das Böse zu neutralisieren und zu kompensieren“. Ähnlich sieht das Psychologie-Professor Dieter Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Nach solchen Ereignissen machen sich bei vielen Menschen Verzweiflung, Kontrollverlust, Hilflosigkeit breit“, erläutert er. „Es entsteht eine Sehnsucht nach dem Guten, nach einer Wiederherstellung des Guten, nach einem Retter.“ Letztlich kann der Pole nach seinem Tod also vielen helfen, neue Hoffnung zu schöpfen.