Analyse Spanien nach Wahl unter Schock: „Rajoys größte Tragödie“
Madrid/Barcelona (dpa) - Am Wahlabend fasste sich ein TV-Journalist in einer Talkrunde erschüttert an den Kopf. Als sich die erneute absolute Mehrheit der Separatisten im Parlament von Barcelona immer deutlicher abzeichnete, fragte der Mann in die Runde: „Geht das denn jetzt wieder von vorne los?
“
Der überraschende Erfolg der Unabhängigkeitsbefürworter bei der Neuwahl in der Konfliktregion Katalonien hat Spanien in einen Schockzustand versetzt. Die Renommierzeitung „El País“ sprach am Freitag in einem Leitartikel von einer „ungewissen Zukunft“. An der Madrider Börse gab der Index Ibex-35 zeitweilig um mehr als zwei Prozent nach.
Am zweiten Wintertag kamen die Aktienhändler trotz kühler Temperaturen mächtig ins Schwitzen. Der größte Verlierer und somit derjenige, der am meisten zittern muss - darin waren sich am Freitag nahezu alle Medienkommentatoren einig - heißt aber Mariano Rajoy. Der Plan des spanischen Ministerpräsidenten, den Konflikt mit „harter Hand“ und ohne Dialog zu lösen, sei gescheitert, hieß es überall. Der 62-Jährige werde nicht ungeschoren davonkommen.
Das Problem ist nicht nur die absolute Mehrheit der Separatisten in Katalonien, mit der aufgrund der Umfragen niemand gerechnet hatte. Rajoys Volkspartei (PP) wurde zudem bei der Wahl nahezu aus Katalonien „vertrieben“. Sie verlor acht ihrer bisher elf Parlamentssitze und ist mit nur noch drei Vertretern schwächste Fraktion in Barcelona. Da kam schnell auch Kritik in den eigenen Reihen auf. Der regionale Regierungschef von Galicien, Alberto Núñez Feijóo, ein Partei-Schwergewicht, forderte „Selbstkritik“. „Wir können nicht immer den anderen die Schuld geben“, sagte er.
„Rajoys größte Tragödie“, titelte Ruben Amón seine Kolumne in der Zeitung „El País“. Der angesehene Schriftsteller sieht sogar die politische Zukunft des konservativen Politikers „kompromittiert“. Rajoy sei unter anderem die Anwendung von Polizeigewalt zur Verhinderung des illegalen katalanischen Unabhängigkeits-Referendums am 1. Oktober in Katalonien nicht verziehen worden.
Dass der von Rajoy Ende Oktober wegen der Abstimmung und wegen eines Unabhängigkeitsbeschlusses als Regionalpräsident abgesetzte Carles Puigdemont nun Spitzenkandidat der Separatistenpartei mit den meisten Stimmen ein Comeback wagen könnte, hatte in Spanien niemand für möglich gehalten. Zumal der 54-Jährige sich nach Brüssel abgesetzt hatte, um einer Festnahme wegen Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder zu entgehen und somit nicht in Katalonien am Wahlkampf hatte teilnehmen können.
Wenn Puigdemont es schaffen sollte, sich innerhalb der vom Gesetz vorgeschriebenen Fristen bis Mitte April mit den anderen separatistischen Parteien auf eine Regierungsbildung zu einigen und dabei bestehende Differenzen auszuräumen, könnten sich die Fronten zwischen Madrid und Barcelona weiter verhärten.
Die der PP nahestehende Zeitung „El Mundo“ meinte, Rajoy werde vom „Debakel deutlich geschwächt“ und werde nun vom „Gespenst der Neuwahlen“ auf nationaler Ebene bedroht. Vor Journalisten wies der Ministerpräsident diese Möglichkeit am Freitag barsch zurück. Er denke nicht daran, sagte er auf Anfrage. Selbstkritik?, fragte ein anderer Journalist. Keine. Verhandlungen mit Puigdemont?, wollte ein Dritter wissen. „Nur auf Grundlage des Gesetzes.“
Rajoy, politisch schon häufig totgesagt, führte sein Land in den vergangenen Jahren aus einer schlimmen Wirtschaftskrise und überstand außerdem viele Korruptionsaffären. Obwohl seine PP 2016 die absolute Mehrheit im Madrider Parlament verlor, verstand es der Richtersohn aus Santiago de Compostela, gekonnt Allianzen zu bilden und das Regierungsschiff stets in ruhiges Fahrwasser zu bringen. Das könnte sich nun aber ändern.
Man kann sich um Rajoy, um die spanische Regierung und auch um die Stabilität der viertgrößten Volkswirtschaft der Eurozone durchaus Sorgen machen. Kurzfristig sieht es aber vor allem für Katalonien ganz heikel aus. Der monatelange Konflikt hat der wirtschaftsstarken Region bereits schlimme Schäden zugefügt. Mehr als 3000 zum Teil sehr wichtige Unternehmen verlegten ihren Sitz im Zuge der Krise in andere Regionen, Zigtausende Touristen blieben weg und die ausländischen Investitionen gingen schon im dritten Quartal um rund 75 Prozent zurück. Die Gesellschaft ist polarisiert.
Eine Erholung, ein Ausweg aus der Krise, ist nach der Wahl vom Donnerstag nicht in Sicht. „Die Versuchung, die absolute Mehrheit der Separatisten in Treibstoff für eine Neubelebung des politischen und sozialen Konflikts zu verwandeln, ist vorhanden“, warnt „El País“.