Analyse „Verschrotter“ Renzi entmachtet sich selbst
Rom (dpa) - Als italienischer Ministerpräsident hatte es Matteo Renzi schon recht weit gebracht: Der Chef der 65. italienischen Nachkriegsregierung feierte kürzlich seine ersten 1000 Tage im Amt, was nur wenige seiner Vorgänger geschafft hatten.
Doch kurz nach Mitternacht war am Montag Schluss.
Nachdem sein Volk die von ihm vorangetriebene Verfassungsänderung mit überdeutlicher Mehrheit hatte durchfallen lassen, kündigte der 41-Jährige seinen Rücktritt an.
Als „Il rottamatore“, der große Verschrotter, war er vor knapp drei Jahren angetreten und wollte Italien von Grund auf umbauen. Nun räumt der Europa-Freund das Feld und hinterlässt große Unsicherheit in einem Land, das nichts dringender als Stabilität bräuchte.
Was ist nur los in Italien? Warum haben sich die Menschen nicht für eine Reform entschieden, die ein Ende der ewigen Regierungskrisen bedeuten sollte? Die nach Lesart ihrer Befürworter hätte beweisen können, dass Italien doch reformfähig ist. Die Antwort: „Es war ganz eindeutig eine Abstimmung über Renzi.“ Das sagt der renommierte Politikwissenschaftler Giovanni Orsina von der Universität Luiss in Rom. Die spanische Zeitung „El País“ ist deutlicher: „Ein Stinkefinger für Matteo Renzi.“
Der 41-jährige Chef der Sozialdemokraten hat den Fehler gemacht, das Referendum zu einer Abstimmung über sich selbst zu machen - obwohl er das wohlgemerkt gar nicht hätte machen müssen. Er hat auf seinem anfänglichen Höhenflug nicht gemerkt, dass sein Volk und auch seine Partei PD ihm schon lange nicht mehr folgten. Dafür büßt er.
Nur ein Fünftel habe wirklich über die Verfassungsreform abgestimmt, der Rest habe wie bei einer Wahl politisch entschieden, sagt Orsina. „Brexit, Trump ... wir sprechen hier über ein globales Phänomen. Die Leute haben aus Wut und Unzufriedenheit gewählt, weil Renzi für sie die Quintessenz des viel besungenen politischen Establishments war.“
Die Menschen hätten in diesem globalen Kontext immer weniger Geduld. „Wir leben in einem sehr komplizierten Land, in einem komplizierten Kontinent, die Leute sind nervös, frustriert aber vor allem ungeduldig“, sagt Orsina. Die 1000 Tage, die Renzi im Amt war, seien schon genug gewesen. Die Wähler erwarteten schnelle Verbesserungen, aber die Probleme Italiens hätten schon in den 60er Jahren begonnen.
Arbeitslosigkeit, Vetternwirtschaft, Korruption sind die Krankheiten. Die Leute haben unterbezahlte Jobs, wenn sie überhaupt einen bekommen. Viele Junge, Gutausgebildete gehen ins Ausland. „Italien ist ein Land, in dem niemand niemandem traut“, so Orsina. Alarmierend sei, dass vor allem die jungen Menschen gegen die Reform waren, die den Senat als zweite Kammer entmachten und somit Regierungsblockaden in Zukunft verhindern sollte.
Renzi war sichtlich mitgenommen, als er sagte: „Ich habe verloren und das sage ich laut, aber mit einem Knoten im Hals, weil ich kein Roboter bin.“ Auch seiner Reformministerin Maria Elena Boschi, die ihre ganze Überzeugungsarbeit darauf verwendet hatte, das Projekt durchs Parlament zu bringen, liefen Tränen über die Wangen, wie Journalisten beobachteten.
Es ist bemerkenswert, dass sich hinter dem „No“ Menschen aller politischen Lager versammelten: Von ganz links bis ganz rechts. „Heute hat die Arroganz der Macht verloren“, sagt Luigi di Maio, Vorstandsmitglied der europakritischen Fünf-Sterne-Bewegung, die ein Referendum über die Mitgliedschaft im Euro verlangt.
Die Fünf Sterne und ihr Kopf, der Komiker Beppe Grillo, sind die großen Gewinner dieser Abstimmung. In nationalen Meinungsumfragen rangieren sie zwar schon länger knapp unter Renzis PD. Ihre bisherige praktische Regierungserfahrung ist aber eher dürftig, Roms im Juni neu gewählte Bürgermeisterin Virginia Raggi hat einen auch international viel beachteten Fehlstart hingelegt. Viele, die nun mit „No“ gestimmt haben, würden später weder die Fünf Sterne noch die rechtspopulistische Lega Nord wählen.
Staatspräsident Sergio Mattarella muss nun entscheiden, ob er jemand anders mit der Regierungsbildung beauftragt oder Renzi zum Weiterregieren verpflichtet. Letzteres gilt jedoch als unwahrscheinlich.
Beobachter gehen davon aus, dass dem „stillen Schiedsrichter“ im Quirinalspalast viel daran liegt, schnell wieder zu Stabilität zurückzufinden, was für den raschen Einsatz einer Übergangsregierung sprechen würde. Einer der Kandidaten für das Amt des Regierungschefs wäre Finanzminister Pier Carlo Padoan, was auch ein beruhigendes Signal an nervöse Finanzmärkte wäre. Auch Senatspräsident und Ex-Mafia-Jäger Pietro Grasso ist im Gespräch.
Reguläre Parlamentswahlen stehen in Italien erst 2018 an. Sollten diese aber schon auf kommendes Jahr vorgezogen werden, müsste zunächst das Wahlrecht angepasst werden. Denn das „Italicum“, wie das jüngst erst reformierte Wahlrecht genannt wird, sieht die Existenz eines Senats gar nicht mehr vor.
Italien wird sich nun also zunächst mit einem komplizierten, innenpolitischen Hin und Her beschäftigen, statt sich um den Abbau des enormen Schuldenberges zu kümmern oder um eine Lösung der Bankenkrise. Auch die Flüchtlingskrise, die das Land besonders belastet, wird so andauern.
Renzi bleibt ein schwacher Trost: In der heimatlichen Toskana kam das „Sì“ klar über 50 Prozent. Dies könnte ihn vielleicht ermutigen, nicht ganz von der politischen Bühne abzutreten. Es könnte also durchaus sein, dass „Il rottamatore“ bei der nächsten Wahl wieder antritt und Italien „Renzi reloaded“ erlebt.