Vor vier Jahren flog der NSU auf

München (dpa) - Niemand habe es wissen können. Die Terroristen hätten ja keine Bekennerschreiben verschickt. So lauteten am 4. November 2011 die Auskünfte sämtlicher deutscher Sicherheitsbehörden und der Innenministerien von Bund und Ländern.

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Die Namen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tauchten an diesem Tag zum ersten Mal deutschlandweit in Medienberichten auf. Es ging um Schüsse und ein brennendes Wohnmobil im thüringischen Eisenach. Beate Zschäpe war auf der Flucht. Die Wohnung der drei im sächsischen Zwickau war explodiert. Der 4. November 2011 war der Tag, an dem schlagartig klar wurde, dass es etwas gab, was keine Behörde auch nur geahnt haben will.

Nämlich Terrorismus auf der rechtsextremen Seite. Damit habe niemand rechnen können, hieß es einhellig vor vier Jahren. Geld, Unterstützer, ideologisches Rüstzeug - das alles habe gefehlt, anders, als bei der linksextremen Roten Armee Fraktion, die sich im April 1998 für aufgelöst erklärt hatte.

Nur drei Monate vor diesem Schritt der RAF waren Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Untergrund abgetaucht. Die Stimmung in Deutschland war ähnlich angespannt wie heute. Mehrmals hatte es Anschläge gegen Asylbewerber gegeben. Die islamkritische Organisation Pegida existierte noch nicht. Dafür skandierten Skinheadgruppen „Ausländer raus“. Auf der anderen Seite gab es Lichterketten, wo heute „Willkommenskultur“ gepflegt wird.

13 Jahre lebten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt unerkannt in den ostdeutschen Städten Chemnitz und Zwickau. Sie erholten sich im Campingurlaub an der Ostsee, besuchten Freunde und mutmaßliche Unterstützer in Hannover und mutmaßlich Dortmund, Stuttgart und anderen Städten. Sie sollen Banken überfallen haben, neun türkisch- und griechischstämmige Gewerbetreibende ermordet und außerdem in Heilbronn eine Polizistin erschossen haben.

Und all das will niemand gewusst haben? Jahrelang sprachen die Behörden von einem „Phantom“, wenn es um die Mordserie ging. Der Verdacht richtete sich gegen die Opfer und vermeintliche Türken-Mafiosi. Dass es eine Serie war, das wussten die Ermittler: Bei den neun fremdenfeindlich motivierten Morden wurde immer dieselbe Waffe verwendet, eine tschechische „Ceska“-Pistole.

Von einem „Phantom“ sang auch die rechtsradikale Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“. „Neun mal hat er es schon getan [...] bei allen Kebabs herrschen Angst und Schrecken [...] Er kommt gern spontan zu Besuch, am Dönerstand, denn neun sind nicht genug“.

Die CD, auf der dieses Lied zu hören war, erschien im August 2010, über ein Jahr vor dem Tod Mundlos' und Böhnhardts, also zu einer Zeit, als noch niemand etwas geahnt haben will. Dabei wurde das Lied auf zahlreichen Szene-Konzerten gespielt.

Auf denen trieben sich auch Verbindungsleute der deutschen Sicherheitsbehörden herum. Und das will niemand bemerkt haben? Dem Sprecher des bayerischen Innenministeriums fehlten kurz die Worte auf diese Frage, nachdem er am 4. November 2011 am Telefon dieses Lied vorgespielt bekam.

In den vier Jahren seit dem Ende des NSU hat der Staat immensen Aufwand getrieben, um nachzuarbeiten und Lehren aus der Terrorserie zu ziehen. In mehreren Bundesländern und im Bundestag gab oder gibt es parlamentarische Untersuchungsausschüsse. In München läuft seit Mai 2013 der NSU-Prozess gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte allerdings mehr versprochen. „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken“, sagte sie am 23. Februar 2012 vor Hinterbliebenen und Opfern der Anschläge. „Daran“, so die Kanzlerin, „arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“

Aber am 11. November 2011, zwei Monate vor ihrer Rede und wenige Tage nach dem Ende des NSU, geschah im Dienstgebäude des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln das glatte Gegenteil. Ein Referatsleiter ordnete an, umfangreiche Akten einer Geheimdienstoperation im Umfeld des NSU zu löschen.

Andere Akten blieben erhalten. Denen war zu entnehmen, dass die Geheimdienste ihre Zuträger nicht nur unter unauffälligen Mitläufern hatten. Vielmehr gab es so gut wie keine Gruppe um den NSU, die nicht von Geheimdienst-Spitzeln angeführt oder gegründet wurde. Nicht nur einfache Besucher von Rechtsrock-Konzerten berichteten ihren Führern in den Geheimdiensten, sondern auch die Veranstalter. Nicht nur Leser rechtsradikaler Schriften gaben ihr Wissen weiter, sondern auch die Autoren. Auch die Produzenten des „Dönerkiller“-Liedes gehörten zum Umfeld, wie sich im NSU-Prozess herausstellte.

Auch in anderer Hinsicht ist das Versprechen der Kanzlerin bis heute nicht eingelöst. Nach wie vor ist ungeklärt, ob der NSU tatsächlich nur aus dem Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt bestand. Nicht einmal die Frage, ob die drei über die gesamten 13 Jahre im Untergrund immer als Trio zusammen blieben ist beantwortet.

Und über das Ende des NSU am 4. November 2011 wollen die Gerüchte auch nicht verstummen. War ein geheimnisvoller „dritter Mann“ in Eisenach dabei? Haben sich Mundlos und Böhnhardt doch nicht das Leben genommen, sondern wurden selber ermordet?

Wahrscheinlich ist das nicht. Gewiss ist aber, dass die Polizei sich absonderlich verhielt, als sie etwa das Wohnmobil vor einer gründlichen Spurensicherung abschleppen ließ. Warum? Wieder so eine Frage, der sich jetzt der zweite NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen annehmen will.