WM-Gastgeber Brasilien am Boden zerstört
Belo Horizonte (dpa) - Ganz Brasilien ringt nach dem „Mineirazo“ um Fassung. Das Debakel gegen Deutschland aber hat vor allem bei der Seleção und Luiz Felipe Scolari tiefe Spuren hinterlassen.
Weinend und untröstlich schlichen die Spieler nach dem 1:7 und dem so bitteren Halbfinal-Aus von Belo Horizonte in die Kabine. „Es war eine fürchterliche, eine katastrophale Niederlage, die schlimmste Niederlage aller Zeiten. Aber wir müssen lernen, damit umzugehen“, sagte der Nationaltrainer nach dem fast schon traumatischen Erlebnis.
„Schande im Land des Fußballs“, schrieb die Zeitung „O Dia“, die „Folha de São Paulo“ titelte: „Historisches Debakel.“ Für die
Sportzeitung „Lance!“ war es „die größte Schande in der Geschichte. Es wird schwer sein, an jenes 2:1 gegen Uruguay zu erinnern, angesichts dessen, was Deutschland in diesem Halbfinale gemacht hat. Eine unvergleichliche Folter für diejenigen, die die Seleção lieben.“
Noch diskutieren die Experten, ob das „Maracanazo“ von 1950, als Brasilien vor 200 000 Zuschauern im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro in der letzten Partie mit einem 1:2 gegen Uruguay den Titel verspielte, schlimmer war als jener Auftritt am Dienstagabend im Estádio Mineirão.
Die Protagonisten waren jedenfalls fassungslos. „Normalerweise kann ich nach einer Niederlage nicht schlafen. Aber nach diesem Ergebnis, bei einer Weltmeisterschaft, die wir alle gewinnen wollten, kann ich nicht einmal weinen. Der Schmerz ist so stark, so groß, dass ich nicht die Kraft habe, zu weinen“, erklärte der gelbgesperrte Kapitän Thiago Silva.
Als der WM-Gastgeber nach einer knappen halben Stunde mit 0:5 hinten lag, weinten viele Zuschauern in den gelben Hemden bitterlich. Nach dem frühen 0:1 und dann vier Toren in sieben Minuten - „da hatten wir die Kontrolle verloren“, meinte Scolari später. Weitere Erklärungsversuche schenkte er sich. Welche Rolle es gespielt habe, dass Superstar Neymar fehlte? „Felipão“ schüttelte den Kopf. „Es gibt nicht irgendeinen Grund zu glauben, dass mit Neymar alles anders gewesen wäre. Der ist Stürmer, der ist nicht hinten.“
Für Dante geriet sein WM-Debüt zu einem Albtraum. „Das einzige, was wir tun können, ist um Verzeihung zu bitten“, meinte der Innenverteidiger vom FC Bayern. Am Ende hatten selbst die Deutschen Mitleid mit ihrem Gegner. Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller trösteten ihren Clubkollegen Dante. Miroslav Klose nahm Scolari in den Arm. „Ich habe zwar noch nie 7:1 verloren. Aber kann mir ungefähr vorstellen, wie man sich fühlt, vor allem vor sehr vielen brasilianische Fans. Die Jungs tun einem da schon leid“, meinte Müller.
Für Joachim Löw war Brasilien „unter dem Druck ein bisschen eingebrochen. Ich kann es ein bisschen nachempfinden, wie es Scolari geht, der brasilianischen Nation, der brasilianischen Seele. Aber nach diesen schnellen Toren hat man gemerkt, dass die ganze brasilianische Mannschaft unter Schock stand“, meinte der Bundestrainer. Das „Jogo bonito“, das „schöne Spiel“, hatte Brasilien bei diesem Turnier kaum gezeigt - im Halbfinale spielte die DFB-Auswahl „Jogi bonito“ mit den Brasilianern.
Auch Staatspräsidentin Dilma Rousseff zeigte sich geschockt. „Wie alle Brasilianer bin ich sehr, sehr traurig über die Niederlage. Es tut mir immens leid für uns alle, für die Fans und unsere Spieler“, twitterte sie nach dem Spiel, betonte jedoch auch: „Aber wir lassen uns nicht brechen. Brasilien, schüttel' den Staub ab und steh wieder auf.“
Scolari saß nach dem Debakel mit rot geränderten Augen in der Pressekonferenz. „Dem brasilianischen Volk möchte ich sagen: Bitte entschuldigt diese Niederlage!“, meinte der 65-Jährige, dem ein zweiter WM-Triumph mit der Seleção nach 2002 nicht vergönnt war. „Das ist die schlimmste Niederlage aller Zeiten. Das Ergebnis fällt auf mich zurück, ich bin der Verantwortliche.“
Der Traum vom „Hexacamepão“, vom sechsten WM-Titel, ist jedenfalls mit einem Riesenknall geplatzt. „Ich habe immer gesagt, dass Fußball eine Kiste voller Überraschungen ist. Mit diesem Ergebnis hatte keiner gerechnet“, twitterte Brasiliens Fußball-Idol Pelé und prophezeite für 2018 einfach mal so: „Wir werden den Hexa in Russland holen.“
Vor dem Spiel um Platz drei am Samstag in Brasilia muss sich die Mannschaft, die gnadenlos ausgepfiffen wurde und auf Anweisung von Scolari und nach einige Wortwechseln einigermaßen geschlossen den Platz verließ, erstmal wieder aufrappeln. „Mich interessiert der erste Platz, und wenn es nicht der erste ist, dann ist mir alles andere egal“, meinte Ersatzspieler Dani Alves vom FC Barcelona offen und bekräftigte: „Ich habe immer um erste Plätze gekämpft. Und wenn ich das nicht kann, ziehe ich es vor, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen.“
Noch überhaupt nie hat die Seleção ein Länderspiel so hoch verloren. Die letzte Pflichtspiel-Niederlage zu Hause gab es 1975 - vor über 14 000 Tagen. „Ich habe 1950 noch nicht gelebt“, sagte Thiago Silva. „Aber weil es ein Finale im Maracanã war, hat es bestimmt genauso wehgetan.“